Mein Vater verbrachte den letzten Nachmittag des Jahres jeweils damit, die mehrseitige, mit der Maschine getippte Liste seiner Vorsätze vom letzten Jahr durchzugehen, zu streichen, was er erreicht hatte, was meist nicht sehr viel war, und den Rest auf die neue, ergänzte Liste zu übertragen. Der Prozess dauerte Stunden, dazu trank er Calvados aus einer Flasche mit einem schelmischen alten Mann mit einer gestreiften Schlafmütze auf dem Etikett. «Ich brauche seine Unterstützung», sagte mein Vater jeweils.
Dass gute Vorsätze nicht funktionieren und unweigerlich schlechte Laune machen, wusste ich also schon als Kind. Seither geben mir alle möglichen Studien recht, und gute Erklärungen dafür werden auch jedes Jahr veröffentlicht. Trotzdem können wir es nicht lassen. Und auch ich kann der Vorstellung nicht widerstehen, aus der alten Haut des letzten Jahres zu schlüpfen und sozusagen blitzblank und ohne Kratzer und Beulen dazustehen wie am ersten Tag. Auch ich möchte glauben, dass alles wieder möglich, alles offen ist.
Das beginnt bei der Agenda. Es bereitet mir ein kindisches Vergnügen, eine neue Agenda aufzuschlagen und die leeren Seiten mit bunten Stickern zu bekleben. Als könnte ich so verhindern, dass sie sich mit Terminen füllen, mit Aufgaben und Verpflichtungen. Und ähnlich wie mein Vater, aber auch ganz anders als mein Vater, nehme ich mir irgendwann zwischen Ende Dezember und Ende Januar Zeit, über das vergangene und das kommende Jahr nachzudenken.
Ich fasse keine «guten» Vorsätze mehr. Denn was sind diese anderes als ein verzweifelter Versuch, sich selbst zu ändern, zu verbessern, zurechtzubiegen? Ach, wie ich das Konzept des Self-Improvements hasse, das ja impliziert, dass ich so, wie ich bin, nicht genug bin. Danke, damit bin ich schon aufgewachsen. In diesem Irrglauben habe ich meine Jugend und einen zu grossen Teil meines Erwachsenenlebens verbracht. Wie wohl die meisten meiner Generation glaubte ich, dass ich unerbittlich an mir arbeiten müsse, um zu genügen. Wem zu genügen? Welchen Normen? Welchen Vorstellungen?
Doch mit den Jahren wurde mir immer klarer bewusst, dass ich nur dieses eine Leben habe. Nur diesen einen Körper, diesen einen Geist, dieses eine Herz. Und dass ich diese in meiner begrenzten Zeit hier wohl besser und sinnvoller nutzen und einsetzen kann als mit ständigen Forderungen, Anmassungen und Kritik. Statt Baustellen und Problemen, die behoben und geflickt werden müssen, sehe ich lieber ungeahnte Möglichkeiten, ungenutztes Potenzial und unerfüllte Träume. Statt Vorsätzen formuliere ich Wünsche. Statt die Peitsche zu schwingen, spanne ich meine Flügel auf.
Und so sitze ich nicht beim Calvados, sondern bei einem Glas Wein und denke über die Wünsche nach, die ich für das vergangene Jahr gehegt hatte. Wie mein Vater damals kann auch ich kaum etwas auf meiner Liste abhaken. Doch dafür haben sich Wünsche erfüllt, von denen ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich sie in mir trug. Das vergangene Jahr hat mich wie jedes Jahr in meinem Leben überrascht, verzaubert, gefordert, in die Knie gezwungen, an meine Grenzen gebracht und mit Dankbarkeit erfüllt. Das kommende wird das auch. Ich freue mich darauf.