Das Telefon klingelte sehr früh am Morgen. «Meine Garage ist überschwemmt», sagte meine Freundin. «Und die Pumpe funktioniert irgendwie nicht. Meinst du, Victor könnte mal nachschauen?»
«Ich werd ihn gleich wecken.»
Dieser an sich banale Austausch hatte durchaus eine tiefere Bedeutung: Es war das erste Mal in über zwanzig Jahren Freundschaft, dass Theresa mich um Hilfe bat. Vor ein paar Monaten hatte ich mich fürchterlich aufgeregt, als sie nachts die Treppe heruntergefallen und mit dem Taxi in den Notfall gefahren war. Mit einer verstauchten Hand und einer heftig blutenden Kopfwunde. Dabei wohnen wir doch keine fünf Minuten von ihr entfernt. «Ich wollte euch nicht stören», verteidigte sie sich. «Und überhaupt, du musst grad was sagen!» Stimmt schon. Oder wie die Amerikaner so schön sagen: «It takes one to know one» – auf Schweizerdeutsch: «Mir sind im gliiche Schpital chrank.» Sie und ich und so viele meiner Freundinnen, eigentlich die meisten Frauen, die ich kenne, und durchaus auch einige Männer.
Als wir an diesem Morgen mit Werkzeugkiste und Kübeln bewaffnet bei ihr eintrafen, hatte sich allerdings schon die halbe Nachbarschaft versammelt. Das Trottoir war abgesperrt, die Pumpe lief, das Garagentor war mit Sandsäcken gesichert und ein Notfallsanitär war offenbar auch schon unterwegs. Ein grummeliger Teenager schenkte, offenbar auf Befehl seiner Mutter, Kaffee aus, seine kleine Schwester bot Kekse an. Die bunten Regenschirme wiegten sich wie Blumenköpfe im nicht nachlassenden Regen.
Theresa selbst war nirgends zu sehen, also gingen wir wieder. Zwei Tage später, als wir uns zum Spazierengehen trafen, erzählte sie mir, dass sie sich im Bad eingeschlossen hatte, um zu weinen.
Die geballte Nachbarschaftshilfe hatte sie überwältigt. Darauf war sie nicht gefasst gewesen. «So oft ich mir gewünscht habe, dass jemand für mich da ist – als es tatsächlich eintraf, konnte ich nicht damit umgehen. Verstehst du das?»
Oh, ja. Und wie ich das verstehe. Wer Mühe hat, um Hilfe zu bitten, hat einfach schon früh erfahren, dass Hilfe schwer zu kriegen ist. Nicht einfach so geleistet wird. Auch dann ausbleibt, wenn sie versprochen wurde. Irgendwann ist es einfacher, gar nicht erst darauf zu hoffen. Einfacher, und vor allem weniger schmerzhaft.
Aber wir existieren nun mal nicht in einem Vakuum. Wir sind miteinander verbunden. Theresa lebt seit fast dreissig Jahren in ihrem Haus, in ihrer Strasse. Sie kennt die meisten ihrer Nachbarn, sie kauft für sie ein, hütet ihre Hunde, lädt sie zum Essen ein. Immer wieder habe ich bei ihr zu Hause Leute getroffen, die sie von der Strasse weg zum Essen eingeladen hat. Mich wundert es gar nicht, dass diese Nachbarn nur auf eine Gelegenheit gewartet hatten, ihr etwas zuliebe zu tun. Ihr zu helfen, so wie sie es unzählige Male getan hat. Wir tun unseren Freunden und Bekannten keinen Gefallen, wenn wir ihnen «nicht zur Last fallen», sie «nicht stören» wollen. Wenn wir sie nicht um Hilfe bitten, uns nicht auf sie stützen, nicht auf sie verlassen. Das sehe ich ganz klar – wenn es um jemand anderen geht.
Gute Freunde sind wie frisch polierte Spiegel. Man sieht oft mehr in ihnen, als man sehen will.