Milena Moser
Was die Nächsten denken

Die Einkaufswagen, die schwarzen Zeltplachen, die leeren Flaschen. Die Kartonunterlagen, das versiffte Sofa, ein schlafender Hund. Obdachlosenlager wie dieses sind in San Francisco Teil des Stadtbilds geworden. Aber dieses hier ist eine Miniatur. Eine Installation.
Publiziert: 29.05.2023 um 11:17 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Die Künstlerin Ana Rivera Rossi stellt sich vor, wie zukünftige Archäologen ein solches Lager rekonstruieren und für ein Museum präparieren würden. Wie sie es als Beispiel für eine Zeit zeigen würden, die als «barbarische» in die Geschichte eingegangen wäre.

«Was werden sie einmal über uns denken?», fragt sie.

Langsam gehe ich um die Installation herum, beuge mich über sie, entdecke immer wieder Einzelheiten, eine Gitarre ohne Saiten, eine zusammengerollte Yogamatte, ein kaputtes Fahrrad. In der Realität schaue ich nie so genau hin. Meist gehe ich schnell weiter, mit abgewandtem Gesicht.

Zwei Jungen im Grundschulalter stehen auf der anderen Seite und drücken sich die Nasen am Plexiglas platt. Sie zeigen mit den Fingern auf einzelne Details, die ihnen bekannt vorkommen müssen. Es gibt schliesslich kaum ein Wohnviertel in San Francisco, das nicht betroffen ist. Die hiesigen Zustände sind sogar in Europa Medienthema. Besorgte Freunde rufen mich an: Ob das wahr sei, die Stadt, in der ich lebe, sei eine «Obdachlosenhölle?»

«Na, na.» Bin ich schon zu lange hier, bin ich abgestumpft?

Ich schaue den beiden Jungen zu. Konzentriere mich jetzt mehr auf sie als auf die Installation. Was denken sie, frage ich mich. Was denken sie im Alltag, wenn sie an diesen Zeltlagern vorbeigehen, wenn sie routinemässig einen Bogen um Menschen herum machen, die auf dem Trottoir liegen, an der Bushaltestelle oder vor dem Hauseingang. Fragen sie ihre Eltern, warum diese Menschen daliegen? Und was man tun könnte, um ihnen zu helfen?

Kinder haben einen unverstellteren Blick, ein klareres Gefühl für Gerechtigkeit als wir. Als ich.

Ich erinnere mich, wie ich als Kind versuchte, den Zweiten Weltkrieg zu verstehen. Er war nicht nur in der Schule ein Thema, sondern auch zu Hause und in den Büchern, die ich damals las. Ich konnte absolut nicht nachvollziehen, wie es so weit hatte kommen können. Was war denn damals mit den Erwachsenen los gewesen? Warum hatten die nichts getan? Das hätte ich nicht zugelassen! Ich hätte mich doch gewehrt, ich hätte gekämpft, und natürlich hätte ich Anne Frank bei mir versteckt. Keine Frage.

Doch je älter ich werde, desto weniger sicher bin ich mir da. Auch wenn ich mir gern einbilde, ich sei vergleichsweise mitfühlend und hilfsbereit. Aber habe ich je mein Leben für jemand anderen riskiert? Oder auch nur meine Sicherheit oder meine Freiheit? Habe ich nicht. Schon gar nicht für jemanden, den ich nicht kenne.

Jeden Tag gehe ich an Obdachlosen vorbei. Immer wieder durchlebe ich Phasen des hilflosen Aktivismus, in denen ich Lebensmittel und Schlafsäcke und Geld vorbeibringe und meist vergeblich versuche, eine Verbindung herzustellen. Doch weitaus öfter schaue ich zur Seite und auf den Boden. Ich schäme mich, ich weiche aus. Nicht nur den betroffenen Menschen, sondern auch meinen Gedanken. Meiner eigenen Hilflosigkeit. «Nie», antworte ich im Stillen den beiden Buben, die mich gar nicht gefragt haben. «Nicht ein einziges Mal hatte ich den Impuls, jemanden von der Strasse aufzulesen und mit zu mir nach Hause zu nehmen.»

Jetzt tritt die Mutter der beiden näher. Sie meint, es sei Zeit zu gehen, doch die Buben können sich noch nicht losreissen. Unsere Blicke treffen sich, und dann zucken wir hilflos mit den Schultern.

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