Milena Moser
Wir Schildkröten

Victor streicht gerade das massive Esszimmerbuffet, indem alle möglichen Dinge aufbewahrt sind, von denen wir nicht einmal mehr wussten, dass wir sie haben. All diese Dinge sind nun auf dem Esstisch aufgestapelt. Doch ich beklage mich nicht.
Publiziert: 22.05.2023 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 21.05.2023 um 17:40 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Die Farben haben wir vor bald drei Jahren gekauft. Damals, im ersten Jahr der Pandemie, haben wir gemeinsam das Wohnzimmer sonnengelb gestrichen. Während der erste Anstrich trocknete, lagen wir nebeneinander auf dem mit Zeitungen ausgekleideten Fussboden und starrten an die noch etwas fleckige gelbe Decke, bis unsere Augen flimmerten und wir uns an einem sonnigen Ort wähnten, weit weg.

Wir machten Pläne, nicht fürs Reisen, was auch ohne Pandemie eher schwierig ist, sondern fürs Streichen. Türkisfarbene Wände im Schlafzimmer, orange im Esszimmer. Und die wandfüllenden, dunkelbraun gebeizten Monstermöbel, die Victor vor über zwanzig Jahren selbst gebaut hatte, würden wir in gleich drei verschiedenen Farben streichen, Gelb, Rot und Hellgrün. «Wie eine mexikanische Kirche», sagte Victor träumerisch.

Wir kauften die Farben. Wir kauften auch gleich eine neue Lampe aus bunten Glaskugeln. Und dann ... ehrlich gesagt, weiss ich auch nicht mehr genau, was dann passierte. Irgendetwas passiert nun mal immer. Eine Diagnose, ein Krankenhausaufenthalt, eine Operation. Eine Ausstellungseröffnung, ein neues Buch, eine Party. Eine Einladung zum Essen, eine Fahrt über Land. Das Leben halt. In all seiner üppigen Fülle.

Und die Dinge bleiben liegen. Manchmal jahrelang.

Ganz unter uns, früher hätte ich das nicht ausgehalten. Und auch jetzt hadere ich manchmal noch damit. Die Vorstellung, dass die To-do-Liste des Lebens tatsächlich abgearbeitet werden könne, nein, sogar müsse, sitzt ziemlich tief. Und nicht nur bei mir.

Unser Freund Sam kam neulich triumphierend zum Sonntagsessen: Endlich hatte er den lotterigen Griff an seiner Ofentür geflickt und zwar ganz allein beziehungsweise nur mit der Hilfe von Youtube. «Seit zehn Jahren reg ich mich über das Teil auf», erzählt er. Einmal habe er sogar einen Fachmann um Hilfe gebeten, doch dieser habe sich nur am Kopf gekratzt und gemeint, das sei kompliziert. Man müsse die ganze Tür abschrauben, auseinandernehmen und wieder neu zusammensetzen. Das traute Sam sich nicht zu, und so gewöhnte er sich daran, den Griff nur auf der einen, der nicht lotterigen Seite anzufassen.

Doch dann kam eine Freundin zu Besuch – «Freundin?», riefen wir, «was für eine Freundin?» Doch das ist eine andere Geschichte, und die wollte Sam nicht erzählen. Nur, dass sie eine Quiche mitgebracht hatte, die sie kurz aufwärmen wollte. «Nein!», schrie Sam, als sie die Ofentür öffnete. Ihr schockierter Blick gab den Ausschlag: Sam reparierte die Tür. Es war so kompliziert, wie der Fachmann vorausgesehen hatte, aber er schaffte es. Nicht einmal eine Stunde brauchte er dazu – oder zehn Jahre. «Ich bin nun mal eine Schildkröte und kein Hase!»

«Sind wir doch alle!» Wir nehmen uns alle mehr vor, als wir durchführen können. Aber irgendwie kommen wir immer ans Ziel, oder zumindest an ein Zwischenziel. Auch wenn es manchmal Jahre dauert. «Wisst ihr noch, wie lange Victor und Milena auf dieser einen elektrischen Herdplatte kochen mussten?», fällt einer Freundin ein, und alle lachen. Wir auch. «Aber gut gegessen haben wir bei euch trotzdem immer!» Das Leben mag uns manchmal am Abarbeiten unserer Erledigungsliste hindern, aber das ist okay. Solange es nicht umgekehrt ist.

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