Kerri ist verwirrt. «Wo ist denn der Patient?», fragt sie immer wieder. Sie schaut sich im Wohnzimmer um, als hätten wir ihn unter dem Sofa versteckt oder vielleicht hinter den Bücherregalen. Der lebenslustige Mann, der ihr sein Atelier gezeigt und ihr dann einen Kaffee angeboten hat, kann es ja wohl nicht sein. Erst, nachdem Victor ihr seinen Ausweis und seine Versicherungskarte vorlegt, glaubt sie ihm. Und dann muss sie sich erst einmal setzen.
«Nichts für ungut, aber Sie sehen nicht aus, als würden Sie bald sterben.»
Sterben? Wir wechseln einen Blick.
«Ähm ... nein?»
Victor hat sich schon gewundert, als ihm seine ansonsten lausige Krankenversicherung den Hausbesuch einer Pflegefachperson ankündigte. Kerri ist allerdings nicht hier, um seinen Blutdruck zu messen oder seine Medikamente zu sortieren. Nein, ihre Aufgabe ist es, ihn auf den Übertritt ins Sterbehospiz vorzubereiten. Im Gegensatz zu uns weiss sie aber, wie es zu diesem Missverständnis kommen konnte: «Diese elenden Roboter», seufzt sie.
Offenbar überlassen Krankenversicherungen ihre Entscheidungen neuerdings voll und ganz der KI. Und diese zieht aus Victors über 20-jährigen Krankengeschichte nur einen Schluss: dass er es nicht mehr lange machen wird. Das ist auch der Grund, warum sie seine überfällige letzte Augenoperation immer wieder ablehnt: Er wird sie ja eh nicht mehr brauchen. Egal, wie oft eine real existierende, lebende, atmende, denkende Ärztin den Eingriff beantragt, die letzte Instanz ist der Algorithmus. Und der sagt Nein.
«Am Ende sind es immer die Roboter, und nicht die Menschen, die miteinander kommunizieren», erklärt Kerri. «Der von der Versicherung sagt Nein, und der von der Klinik akzeptiert das. Auch wenn es zehnmal hintereinander passiert. Es ist zum Wahnsinnigwerden.»
«Das kannst du laut sagen.»
Kerri gibt allerdings zu, dass sie nicht misstrauisch wurde, als ihr Victors Fall übertragen wurde. Rein aufgrund seiner Krankengeschichte hat sie sich auch auf einen schwer kranken Patienten vorbereitet. Auf Victor war sie nicht gefasst.
Willkommen im Club, denke ich. Die Frage, wo der Patient sei, hören wir nicht zum ersten Mal. Seine Ärztinnen sind immer wieder erstaunt, wie schnell er sich auch von schweren Diagnosen erholt und wie gut es ihm trotz allem geht. «Steht er tagsüber auch mal auf?», fragte mich seine Hausärztin vor ein paar Jahren. Er stand nicht nur auf, er installierte eine ganze Ausstellung. Ein anderes Mal rief uns ein verstörter Kardiologe an, der nach Victors Herzuntersuchung von der Technikerin alarmiert worden war. Wir waren schon auf dem Heimweg, als er uns erreichte. Er habe den Film vor sich, sagte er, das sehe gar nicht gut aus, Victor müsse sofort in den Notfall kommen. Mir wurde eiskalt, doch dann schaute ich zu Victor, der seelenruhig neben mir sass. Wir hatten auch gerade über Filme geredet, wir wollten nämlich noch ins Kino gehen. Konnte er wirklich in Lebensgefahr sein? Victor nahm mir das Telefon aus der Hand. «Der kennt mich eben nicht», beruhigte er mich. «Der weiss nicht, dass ich ein Sonderfall bin.»
Daran halte ich mich fest.
Kerri trinkt ihren Kaffee aus und verspricht, uns im Kampf gegen die Roboter beizustehen. Dann misst sie Victors Blutdruck, «wenn ich schon mal hier bin». Sie misst zweimal, doch das Resultat ist dasselbe: «Perfekt.»