Milena Moser
Der Goldsucher

Frühmorgens in einer kleinen Stadt in den nordkalifornischen Bergen. Ich spaziere die menschenleere Hauptstrasse entlang, auf der Suche nach einem doppelten Espresso. Stattdessen finde ich einen Goldsucher.
Publiziert: 12.06.2023 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.06.2023 um 10:12 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Kaum jemand ist zu Fuss unterwegs. Die Wanderwege, für die die Gegend bekannt ist, sind offenbar nur mit dem Auto zu erreichen. Die meisten Geschäfte sind noch geschlossen, das kleine Café, das ich hoffnungsvoll ansteuere, bietet nur eisgekühlte Getränke an. Zwei Teenager mit verfilzten Haaren schleifen auf ihren Skateboards den Randstein entlang. Ein Mann rollt seinen Schlafsack zusammen. Als ich an ihm vorbeigehe, steht er auf.

«Suchen Sie etwas?» Vermutlich ist er um einiges jünger als ich, doch sein Gesicht ist von tiefen Kerben durchzogen, seine Haltung angespannt, als ahne er den nächsten Schlag voraus und versuche, sich davor zu schützen. Doch sein Blick ist klar und freundlich.

«Einen doppelten Espresso», sage ich.

Er presst bedauernd die Lippen zusammen. «Schwierig. Da gibts nur Starbucks, hier die Strasse runter.» Er erklärt mir den Weg und fragt dann schüchtern, ob ich allenfalls einen Getreideriegel in der Tasche hätte. Das habe ich nicht. Plötzlich erinnere ich mich an eine Paartherapeutin, die mir vor vielen Jahren geraten hat, immer einen solchen bei mir zu tragen und, bevor ich «einen Streit anfange», erst einmal einen Bissen zu nehmen. So könnte ich die meisten meiner Probleme vermeiden, meinte sie. Hilfreich oder nicht, der Vorschlag hat sich erledigt. Einen Getreideriegel habe ich immer noch nicht dabei, aber vielleicht einen Apfel? Ich räume meine Tasche aus, doch der Apfel ist nicht drin, und Bargeld habe ich auch keines dabei. Der Mann schaut zu Boden, als hätte er nichts anderes erwartet.

«Kommen Sie doch einfach mit», sage ich. «Ich lade Sie ein.»

Er heisst Jack und hat als Kind einmal die Schweiz besucht. «Die Berge», sagt er. «Die hab ich nie vergessen.» Er knüpft das blaue Tuch auf, das er um den Hals trägt und faltet es auseinander: Es ist mit Edelweissblüten bedruckt. Dann zeigt er auf den schneebedeckten Gipfel des Mount Shasta vor uns. «Aber hier ist es auch schön.»

Als wir bei Starbucks ankommen, sehen wir, dass das Lokal geschlossen ist. Aber der Drive-Through-Schalter ist bedient, und so reihen wir uns zu Fuss zwischen den kastenförmigen Geländewagen ein, die sich auch nicht schneller vorwärtsbewegen als wir. An der Gegensprechanlage geben wir unsere Bestellung auf, einen doppelten Espresso, einen Pfefferminztee und eine Scheibe Bananenbrot. Ich dränge Jack, mehr zu bestellen, so viel er wolle! Er schüttelt den Kopf: «Mehr brauche ich nicht.» Nebeneinander, als würden wir tatsächlich in einem Auto sitzen, gehen wir zum Abholfenster nach vorne. Er erklärt mir, dass der anhaltende, heftige Regen Anfang des Jahres die Flüsse aufgewühlt habe, sodass nun plötzlich wieder Gold zu finden sei. Ein Freund habe ein fast achtzig Gramm schweres Nugget gefunden. Jack ist auf dem Weg dorthin – wohin genau, das behält er wohlweislich für sich. «In drei Monaten kann ich hunderttausend Dollar machen, easy!» Wir nehmen unsere Bestellung entgegen, Jack bittet um Honig, der in Plastikpäckchen abgepackt ist und leuchtet wie flüssiges Gold.

Auf dem Weg zu meinem Motel höre ich das melancholische Pfeifen eines herannahenden Zuges. Ein Güterzug rattert durch die Stadt, eine endlose Kette von verrosteten Containern. Ich drehe mich um, doch Jack sehe ich nicht mehr, er ist auf der anderen Seite. Auf der falschen Seite der Geleise, wie die amerikanische Redensart sagt. Oder auf der richtigen.

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