Victor steckt sich den Pin mit der Schweizerflagge an das Band seines knallroten Strohhuts. Ich ziehe die weissen T-Shirt-Ärmel unter dem roten Overall hervor und verwandle mich sozusagen in ein Schweizer Kreuz.
Derart aufgeputzt pilgern wir zur 1.-August-Feier des Konsulats, wo uns ein Meer von rot-weiss gekleideten Feiernden erwartet, Männer in Sennenkutteli, Frauen in bestickten Blusen. Rote Baseballkäppis mit Schweizerkreuz in Glitzersteinen, sogar zwei Dirndl sehe ich, wohlgemerkt von Frauen, die noch nie in der Schweiz waren, deren Wurzeln drei oder vier Generationen zurückreichen. Je grösser die Distanz, desto ungefilterter die Begeisterung.
Das ist ja in der Liebe auch so. Wenn der andere weit weg ist, kann er uns nicht auf die Nerven gehen. Er begeht keine kapitalen Fehler beim Einräumen einer Abwaschmaschine, der schnarcht nicht, oder wenn, dann hören wir es nicht. Und wenn die Trennung lange genug dauert, dann vergessen wir seine Macken und Mödeli sogar ganz.
«Das Heidiland-Syndrom», nennt es eine Freundin, die schon so lange nicht mehr in der Schweiz war, dass sie sich nicht vorstellen kann, dass dieses wunderbare kleine Land Probleme haben sollte.
Hier stehen wir nun, neu Ausgewanderte und seit Generationen Verankerte, und hören der Landeshymne zu, die in vier Sprachen gesungen wird. Ich schaue mich um, glänzende Gesichter überall. Ich bin nicht die Einzige, die vor Rührung ergriffen ist. Als ich noch in der Schweiz lebte, habe ich den 1. August nie so patriotisch verbracht.
Milena Moser – die Kolumnen
Wir warten darauf, dass das Buffet eröffnet wird. «Meinst du, es wird Käse geben?», fragt Victor hoffnungsvoll. «Bestimmt.» Manchmal denke ich, er ist noch schweizbegeisterter als ich. Obwohl er meine Heimat noch nie besucht hat und die weite Reise in diesem Leben vermutlich auch nicht mehr schaffen wird. Aber er weiss zum Beispiel mehr über die Unterschiede zwischen den Zügen der SBB und denen der Rhätischen Bahn.
Und er schaut sich mit Begeisterung Schweizer Krimis mit Untertiteln an. Mehr als einmal überkam mich ein surreales Gefühl, als mir plötzlich die Stimme von Mike Müller aus dem Wohnzimmer entgegenschallte. «The Undertaker», natürlich!
«Schau dir das an», sagte Victor einmal beinahe andächtig und zeigt auf den Bildschirm, auf dem gerade eine Schweizer Strassenszene gezeigt wurde, aus welchem Film, das weiss ich nicht mehr. «Als ob es in einem Apple Store aufgenommen worden wäre!» Glänzend, teuer, perfekt. Ist das mein Land?
Später, bei Bratwürsten und ja, Käse, komme ich mit Frauen ins Gespräch, die unterschiedlich lange hier sind. Wir tauschen unsere Eindrücke und Erfahrungen aus, sind uns manchmal einig und manchmal nicht. Etwas wehmütig denke ich an mein erstes Jahr hier zurück.
Damals bildete ich mir ein, immer mehr zu verstehen und zu durchschauen, bis ich die Stadt und ihre Bewohner – und sogar das ganze riesige Land – zu kennen glaubte. Doch mit jedem weiteren Tag wurde das schwieriger. Vielfältiger, widersprüchlicher, emotionaler. Nicht mehr so einfach in einem Satz zusammenzufassen. Vielleicht ist man dort zu Hause, wo man sich nervt.
Vielleicht ist das Liebe.