Frauen in meinem Alter durchbrechen Zielbänder, klettern senkrechte Steilwände hoch, stemmen Gewichtsplatten, die grösser sind als amerikanische Pizzen. «Du weisst nicht, wie viel Zeit du noch hast, also nutze sie», keucht eine hagere Influencerin (ein rätselhafter Beruf, der aber offenbar nicht nur jungen Menschen offensteht). «Fünfzehn Sommer, zwanzig, fünfundzwanzig? Und ebenso viele Winter? Mach besser was draus!»
Ich nicke zustimmend, obwohl sie mich nicht sehen kann. Genau das überlege ich mir doch auch! Wie nutze ich die Zeit, die mir noch bleibt? Was ist in mir angelegt, aber noch ungelebt? Doch dann hält sie all die Medaillen und Trophäen, die sie seit ihrem 60. Geburtstag gewonnen hat, in die Kamera, listet Marathons und Triathlons und Extremathlons auf.
Da muss ich mich gleich hinlegen.
Körperlich habe ich mich nie herausgefordert, ich pushe eher meine inneren Grenzen. Damit können diese Influencerinnen aber nicht helfen. Ausserdem lebe ich mit einem gesundheitlich herausgeforderten Menschen zusammen, wie es so schön heisst. Mit ihm bin ich also immer die Jüngere, Fittere, Schnellere, und manchmal glaube ich, das entspreche der Realität. Dieser Irrglaube fällt allerdings schnell in sich zusammen, wenn ich mit meinen fitteren Freundinnen unterwegs bin.
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Eine von ihnen hat mich letzte Woche zum Wandern eingeladen. Oder eher herausgefordert. «Eine Wanderung ist kein Spaziergang», erklärte sie mir. «Bei einer Wanderung kommst du schon ein bisschen an deine Grenzen.»
Der Weg, den sie vorschlug, führt die wilde nordkalifornische Küste entlang, von einem Strand zum anderen. Wie zufällig würden wir an einem unserer Lieblingslokale vorbeikommen, wo wir haltmachen und zu Mittag essen könnten. Ich war schon halb überredet. «Es ist nur ein Hügel, ganz am Anfang, danach gehts schön eben weiter ...»
Ein Hügel? Nicht wirklich. Eher ein Hügel und dann noch einer. Ich kam definitiv an meine Grenzen. Aber ich genoss es auch. Die kühlenden Nebelschwaden, das Rauschen der Wellen, die wir nicht sehen konnten, der intensive Duft der Wildblumen und Kräuter am Wegrand. Die vereinzelten Begegnungen unterwegs, die jedes Mal zu kurzen Gesprächen – und Verschnaufpausen – führten.
Unser Vorhaben löste Bewunderung aus, die ich durchaus genoss. «Boah, das ist aber ganz schön weit», sagten auch Jüngere und Trainiertere als wir. «Und dann noch in Jeans!» Ganz ehrlich, die Jeans waren mein kleinstes Problem.
Als endlich das Pub aus dem Nebel auftauchte, fühlte ich mich wie eine Cartoon-Figur, die auf eine Fata Morgana zukriecht. Doch dann stärkten wir uns mit einer grossen Portion Pommes frites und kamen mit einem Akademikerpaar ins Gespräch, das nicht nur unsere Ausdauer lobte, sondern auch anbot, uns zu unserem Ausgangsort zurückzufahren. Um all die steilen Hügel (Mehrzahl) herum. Keine Viertelstunde würde das dauern.
Ich gebe zu, ich war versucht. Ich war sehr versucht. Ich schaute meine Freundin an, die mit den Schultern zuckte. «Deine Entscheidung», sagte sie. Der Nebel hatte sich gelichtet, der Ozean glitzerte. Die Wildblumen blühten an den Hängen, Pelikane flogen die Küste entlang. Sie würden uns begleiten.
«Wir wandern», sagte ich.
Es ist schliesslich nur ein Hügel.