Zu zehnt sitzen wir auf unserem Balkon um den Tisch gedrängt, aneinandergekuschelt, in Daunenjacken und Wolldecken gehüllt. Wir sind zwischen 23 und 72 Jahre alt, auf vier verschiedenen Kontinenten geboren. Jemand erwähnt die neuen Statistiken des Wohnbauamts, die die Grenze zum Niedrigeinkommen bei 104'000 Dollar setzen. Das ist ein Betrag, den niemand von uns erreicht. Und doch leben wir hier.
Während wir Älteren uns ein bisschen als Loser fühlen, fragen sich die zwei Jüngeren, wie sie je auf einen grünen Zweig kommen sollen, wenn sie gleichzeitig die absurd hohen und wucherverzinsten Studentenkredite abzahlen müssen. Beide haben trotz Studienabschluss noch keine feste Anstellung gefunden und halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.
Die Stimmung sinkt mit der abendlichen Temperatur. Ich schaue durchs Fenster in die Küche, wo Victor einen Berg Quesadillas anrichtet. Das ist es, was wir jetzt brauchen. Etwas zu essen. Doch dann kommt das Gespräch auf den verheerenden Brand in Maui, auf die unaufhaltsame Klimakatastrophe, auf den Weltuntergang.
«Die Welt brennt um uns herum», sagt ein Freund. «Und wir sitzen hier, vom Nebel umhüllt, geschützt.» Je heisser das Umland, desto nebliger ist es bei uns. Dafür hatten wir zu Beginn des Jahres drei Monate Dauerregen, Sturzfluten, Überschwemmungen, Todesfälle. Die Erde bäumt sich auf, so kommt es mir vor, sie versucht, uns abzuschütteln wie schädliche Parasiten. Was wir ja auch sind.
«Kein Wunder, leiden wir alle unter Angststörungen», seufzt jemand, und die ganze Runde nickt resigniert. Selbst wenn wir alle keine persönlichen Probleme hätten, wäre der Zustand der Welt genug, um uns in ständige Sorge zu versetzen. Ich denke an das kleine Mädchen, das ich vor ein paar Tagen beobachtete. Es sass hinter seinem Vater auf dem Velo, hatte sich aber im Sitz so umgedreht, dass es den Autofahrern hinter ihnen zuwinken konnte. Wie süss, dachte ich. Doch als sie an mir vorbeifuhren, hörte ich das Mädchen «Langsamer, langsamer!» rufen. Es hatte Angst, wurde mir klar.
Jetzt kommt Victor mit den Quesadillas. Ich beobachte ihn angespannt, wie ich das oft tue, zu oft. Geht es ihm gut, oder bahnt sich wieder eine Krise an? Als ob ich das aufhalten könnte. Als ob meine Sorge die Situation verbessern würde. Victor hingegen vergisst jede Krise, jeden Spitalaufenthalt sofort wieder. «Das ist ja vorbei», sagt er. «Jetzt ist jetzt.» Schlimm genug, wenn etwas Schlimmes passiert – warum länger als nötig darüber nachdenken? Warum sich Sorgen machen? Das gibt dem Schlimmen, wie immer es aussieht, nur noch mehr Platz. Victor lebt im Moment. Ich schaue ihm zu und versuche, es ihm gleichzutun. Es gelingt mir nur selten, aber manchmal gelingt es.
Später begleite ich eine Freundin an die Tramstation an der Ecke. Der Wind hat zugenommen, den Nebel weggefegt. Ein Nachbar bleibt kurz stehen. Seine Frau ist letztes Jahr sehr plötzlich gestorben, und kurz darauf holte er einen Hund aus dem Tierheim, dessen Namen ich immer vergesse, eine Bulldoggen-Mischung mit kampfbereit vorgeschobenem Unterkiefer. Wir plaudern ein wenig, und er erzählt uns, dass seine Tochter ein Kind erwartet. «Ich werde Grossvater», sagt er strahlend, und sein Hund zieht den Unterkiefer ein. Als würde er lächeln.