Sarah Kay lenkte den Wagen mit einer Hand, die andere liess sie aus dem offenen Fenster baumeln wie ein Kind oder eine Raucherin. Vermutlich könnte sie die kurvige Strasse, über der sich die Äste der knorrigen Steineichen fast berührten, auch im Schlaf fahren. Schliesslich ist sie in der Gegend aufgewachsen.
Sarah Kay arbeitet für einen Fahrdienst, der zwischen den Weingütern der Gegend zirkuliert und die Degustierenden sicher transportiert. Er wurde von einem Einheimischen gegründet, dessen Verlobte vor vielen Jahren von einem angetrunkenen Fahrer getötet wurde. «Wir leben von den Weintouristen, aber sie bringen uns auch um.»
Wir nahmen ihre Dienste in Anspruch, weil wir unverhofft ein achtgängiges Degustationsdinner in einem abgelegenen, aber offenbar sehr angesehenen Weingut geschenkt bekommen hatten. Die äusserst grosszügige Einladung löste neben aller Dankbarkeit auch eine kleine Panik aus. Wir hatten uns ja ganz auf gemütliche Leseferien eingestellt und dementsprechend nichts eingepackt, das dem «Dresscode elegant» genügen konnte. Was immer das in Kalifornien bedeutet. Zum Glück ist die Gegend nicht nur für Weingüter, sondern auch für gut sortierte Brockenhäuser bekannt. So konnten wir uns für weniger als zwanzig Dollar – für beide! – einigermassen angemessen einkleiden. Wir mochten ein wenig staubig riechen, aber wir sahen festlich aus. Das fand Sarah Kay auch. Auf der Fahrt erzählte sie uns von ihren vier Teenagern. Als ihre eigenen Kinder drei und eins waren, hatte sie die mehr oder weniger gleichaltrigen Kinder einer plötzlich verstorbenen Freundin bei sich aufgenommen und später adoptiert. Seither müssen die beiden Jüngsten ständig erklären, warum sie zwar gleichaltrige Geschwister, aber trotzdem keine Zwillinge sind. Ich versuchte, mir das vorzustellen: vier Kinder unter vier Jahren allein aufzuziehen. «Ich dachte, ich hätte alles prima im Griff, aber meine Freundinnen sagten mir später, ich sei ganz schön durch den Wind gewesen ...»
Viel zu früh kamen wir an unserem Ziel an. Ich hätte mich gern noch länger mit Sarah Kay unterhalten. Die Atmosphäre im Lokal war ein Kulturschock: überwältigend schön und etwas unterkühlt. Nicht weniger als vier Kellnerinnen betreuten uns, flatterten wie Schmetterlinge um unseren Tisch herum, füllten immer neue Gläser, erklärten die komplizierten Zutaten der winzigen, aber unglaublich schmackhaften Speisen. Ein Gericht wurde unter einer Art Käseglocke präsentiert, aus der lilafarbener Rauch entwich. Ich stiess einen kleinen Schrei aus. Die anderen Gäste taten alle so, als sei das nichts Besonderes, als würden sie jeden Tag so essen. Wir nicht. Wir klatschten in die Hände, wir strahlten. Und mindestens die Kellnerinnen tauten immer mehr auf, lächelten, schenkten uns nach, brachten uns alle möglichen Süssigkeiten.
Als wir Stunden später das Lokal verliessen, zirpten die Grillen, und der nicht ganz volle Mond hing schief. Sarah Kay sass mit den anderen Fahrern auf einer Bank und rauchte. Als sie uns kommen sah, versuchte sie halbherzig, die Zigarette zu verstecken. Dann lachte sie und stand auf.
«Wo sollen wir denn jetzt noch hin, Sarah Kay?», fragte meine Freundin.
«Um diese Zeit? Honey, ins Bett!»