Neulich hab ich zum ersten Mal das Krankenhaus verlassen, während Victor operiert wurde. Das klingt vielleicht nicht besonders revolutionär, es war ein ambulanter Eingriff, nichts Heikles oder gar Gefährliches.
Trotzdem, für mich war es ein Riesenschritt. Bisher sass ich immer wie eine Statue im Warteraum, die Augen auf den Informationsbildschirm geheftet, als könnte ich allein durch meine Konzentration darauf etwas bewegen. Oder verhindern. Das war keine rationale Entscheidung, eher eine Mischung aus Aberglaube und Göttinnenkomplex.
Aber nach neun Jahren und unzähligen Eingriffen und Notfallsituationen bin ich – ja, was? Abgebrüht? Nicht wirklich. Gelassen? Auch nicht. Ich weiss bis heute nicht genau, was mich bewegte, das Gebäude zu verlassen, planlos die Strasse entlangzugehen, einen Moment lang vor einer Buchhandlung zu zögern, dann vor einem Café. Und dann fiel mir ein, dass sich das Museum für Asiatische Kunst ganz in der Nähe befand, das ich in all den Jahren hier noch nie besucht hatte.
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Ich ging hin und kaufte eine Tageskarte, wohl wissend, dass ich sie nicht wirklich nutzen würde. Ich blieb nicht sehr lange, und ich könnte nicht mehr genau beschreiben, was ich gesehen habe. Bunte Monster mit spitzen Zähnen, raumhohe Plastikblumen, bedrohliche Bilder einer buddhistischen Hölle und ein Zettelkarussel mit bunten Ratschlägen, wie man dieser wieder entkommen könnte.
Was immer es war, es lenkte mich ab. Es brachte mich auf andere Gedanken. Dann klingelte das Telefon, der Eingriff war beendet, ich konnte Victor abholen. Es war alles gut gegangen. Auch ohne mich.
Wenn der Ausnahmezustand lange genug anhält, wird er zum Alltag. Die Krankheit ist ja nicht aus heiterem Himmel in unsere Beziehung eingebrochen. Sie war schon vor mir da. Und auch der Tod war immer dabei. Ich weiss nicht mehr, wie oft mir schon mit gesenkter Stimme und eindringlichem Blick verkündet wurde, es sähe leider nicht gut aus.
Aber Victor erholte sich bisher immer und erst noch schneller und gründlicher, als irgendjemand hätte vorhersehen können. Das ist unbestritten schwierig, aber hat auch seine guten Seiten. So streiten wir praktisch nie über Kleinigkeiten, auch wenn es ihn nervt, dass ich keine Schublade ganz schliesse, und ich mich umgekehrt frage, warum er das schmutzige Geschirr im Schüttstein zwischenlagert, statt es in die Maschine zu räumen.
Aber diese alltäglichen Ärgernisse bedeuten nichts anderes als: Wir sind noch am Leben. Wir sind noch zusammen. Und auch: Gerade geht es ihm so gut, dass wir eine Art Normalität leben. Die kann allerdings jederzeit einbrechen. Manchmal fühlt sich das an, als würde ich seit neun Jahren den Atem anhalten. Was natürlich nicht stimmt.
Denn die Wahrheit ist: Das geht uns allen so. Wir können nie wissen, was als Nächstes passiert. Egal, wie minuziös wir planen und wie pedantisch wir uns absichern. Egal, wie fit und gesund wir sind. Das Leben, das Schicksal, das übergeordnete Was-immer-es-ist kümmert sich wenig um unsere Bemühungen. Es hat seine eigenen Pläne oder seine eigene Willkür. Was weiss ich.
Unsere Situation zwingt mich, im Moment zu leben und den Moment zu schätzen. Das ist auch ein unglaubliches Geschenk. «Die letzte Stunde hat auch sechzig Minuten», sagt Victor immer. Ob ich sie nun im Warteraum verbringe oder im Museum.