Dieses Jahr hat Victor seinen Altar Kindern gewidmet. Kindern, die Opfer von Gewalt geworden sind, egal welcher Art. Häuslicher oder systemischer, willkürlicher, zielgerichteter, körperlicher, emotionaler und auch selbst zugefügter.
Victor war ein solches Kind. Die indigenen Wurzeln, die seine Mutter so krampfhaft verbergen wollte, waren bei ihm unverkennbar. Sie schlug ihn so grausam, dass sein kleines Herz vor Angst viel zu schnell zu schlagen begann. Wie ein Kolibri. Bei einer ärztlichen Untersuchung wurde nicht nur das, sondern auch eine besorgniserregende Menge Prellungen und Blutergüsse festgestellt. Im katholischen Mexiko dieser Zeit brauchte es schon einiges, bevor ein Kind den Eltern weggenommen wurde. Aber Victor wurde vorübergehend zu seiner Grossmutter geschickt, die ihn genau so liebte, wie er war. Und die ihn gleich zu den Schamanen schickte.
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Seine Grossmutter hat ihn gerettet, seine Kultur hat ihn gerettet, die Kunst hat ihn gerettet. Als er mit sechs oder sieben Jahren zum ersten Mal ein Museum besuchte, wusste er, dass er Künstler werden wollte. Auf seinen ersten Malkasten sparte er über ein Jahr lang, dann musste er heimlich malen, nachts. Seine Mutter, zu der er wieder zurückgeschickt worden war, zerriss seine Zeichnungen, wenn sie sie fand.
«Ich wurde zu Hause und in der Schule ausgelacht, geschlagen, gequält», sagt Victor. «Weil ich nicht so war, wie ich sein sollte. Nicht so, wie man mich haben wollte.»
Wie vielen Kindern geht es so, genau so, überall auf der Welt? Egal wie viel Aufklärung geleistet wird, Ausgrenzung und Mobbing nehmen in gleichem Masse zu. Kinder wollen dazugehören, wollen Teil der Gemeinschaft sein, sie wollen akzeptiert, wertgeschätzt, geliebt sein. Das ist mehr ein Wollen, es ist überlebenswichtig. Doch manchmal ist etwas anderes stärker. Etwas, das sich nicht unterdrücken lässt, auch nicht mit Gewalt. Eine innere Gewissheit, eine Sehnsucht, ein Seelensplitter, der sich nicht mit der Pinzette entfernen lässt.
Ich war auch so ein Kind. Mich haben die Bücher gerettet, das Lesen zuerst und dann das Schreiben. Manchmal erkenne ich mich wieder. Wenn es die Situation erlaubt, nehme ich dieses Kind, diese Jugendliche dann zur Seite und sage: «Deine Zeit kommt noch. Deine Zeit ist nicht jetzt, aber sie kommt noch. Glaub mir.» Und manchmal bekomme ich dann tatsächlich, Jahre oder Jahrzehnte später, die Bestätigung: «Erinnern Sie sich? Sie hatten recht.»
Victors Zeit ist gekommen. Meine Zeit ist gekommen. Aber so viele andere haben nie die Möglichkeit, die zu werden, die sie sind. Oder überhaupt zu leben. «Ich kannte andere Kinder wie mich», sagt Victor. «Aber sie hielten dem Druck von aussen nicht stand, sie konnten nie werden, wie sie gemeint waren. Manche rutschten ab, in Depressionen, in Selbstzerstörung.» Was hat ihm die Kraft gegeben, durchzuhalten? Was mir?
Wir waren, wir sind nicht stärker als andere. Aber wir hatten Verbündete. Wir hatten Zufluchtsorte, wenigstens in der Fantasie. Studien über Resilienz belegen, dass es auch unter widrigsten Umständen möglich ist, zu überleben, mehr noch, zu sich selbst zu finden. Es genügt ein Mensch, ein einziger Mensch, der an ein Kind glaubt, um es aufblühen zu lassen. Victor greift das Bild des Blühens auf: Der Kolibri, den er für seinen Altar geschaffen hat, besucht alle Blumen, unabhängig von ihrer Farbe, Form oder ihrem Duft.