Milena Moser über das Sterben
Der Tod und ich

Nein, Freunde sind wir nicht, das würde ich nicht behaupten. Aber ich habe mich an ihn gewöhnt. Was bleibt mir anderes übrig, er ist ja immer da. Und je länger ich mit seiner Präsenz lebe, desto dankbarer bin ich dafür.
Publiziert: 05.11.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 04.11.2023 um 15:13 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Der Traum vom Fliegen» und ist soeben erschienen.
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Anfangs war er mein Feind. Als ich mich vor fast zehn Jahren in Victor verliebte, stand er mir im Weg. Er bedrohte mein Glück, missgönnte uns die Zeit, die wir miteinander verbrachten. «Geh weg», sagte ich. «Hau ab, jetzt ist die Liebe da und die ist stärker!» Damals dachte ich wirklich noch, ich könnte den Tod besiegen, könnte eine bleibende Besserung in Victors Gesundheitszustand bewirken, allein durch die Kraft meiner Liebe. Was für eine Arroganz!

Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass Victors Zustand ein chronischer ist, von akuten Krisen durchzogen, die wohl vergehen – aber grundsätzlich besser wird es nicht. Mit jedem Jahr, das vergeht, wird dieser Zustand aber auch normaler: Er wird älter. Ein Privileg, das ihm einmal verwehrt schien. Der Tod spielt sich zwar immer wieder mal in den Vordergrund, meist hält er sich aber abwartend zurück. Wie kann ich ihm nicht dankbar sein für diese geschenkten Jahre?

Als ich zu Beginn unserer Beziehung einer Freundin klagte, dass Victor bald sterben würde, sagte sie achselzuckend: «Na und? Wir sterben alle mal!» Das fand ich damals herzlos, im Nachhinein verstehe ich es besser. Wahr ist es auf jeden Fall. Wir sterben alle mal, und wir haben null Kontrolle darüber, wann und unter welchen Umständen das geschehen wird. Null. Was bleibt uns also anderes übrig, als uns mit dem Tod anzufreunden? Oder ihn wenigstens zu akzeptieren, als ganz normalen Teil des Lebens?

Gerade dieses Jahr scheint er in meinem Umfeld besonders willkürlich zu wüten. Er rafft gesunde Freunde ohne Vorwarnung dahin, manche sogar mitten in einer sportlichen Betätigung, die das Leben doch eigentlich verlängern sollte. Er wirft Felsbrocken vor Mountainbikeräder, öffnet Felsspalten vor Skispitzen, er hält Herzen an und verteilt wild wuchernde Tumore. Er bricht wie eine Naturgewalt in die Leben ein, er zerstört, er verstört, er kommt immer unerwartet. Meine Freundinnen, meine Freunde haben ihn nicht erwartet, sie sind von seiner Grausamkeit überrumpelt, überwältigt, gebrochen. Während er bei uns einfach auf dem Sofa sitzt. Während Victor immer noch lebt. 

Nach seinem letzten Aufenthalt im Krankenhaus nahm sich ein Arzt eine ganze Stunde Zeit, um mit ihm zu reden. 

«Meditieren Sie?», fragte er. «Sind Sie religiös? Beten Sie?» 

«Warum fragen Sie?»

«Ich verstehe nicht, warum Sie noch leben.» Stell dich hinten an, dachte ich. Wir verstehen es auch nicht.

Aber ich spüre tatsächlich, dass die ständige Anwesenheit des Todes unserem Leben eine gewisse Leichtigkeit verleiht. Das mag paradox klingen, aber in dieser Situation werden unwichtige Dinge – unwichtig eben. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als im Moment zu leben, den Moment zu geniessen und diesen Moment des Glücks auch an den ganz schwarzen Tagen zu finden. Beziehungen zu pflegen, nichts ungesagt zu lassen, jeden Tag so zu leben, als obs der letzte wär. All das. Aber vielleicht kann ich das auch nur so gelassen sehen, weil es Victor gerade so gut geht, wie schon lange nicht mehr. Vielleicht schreibe ich es auf, um mich später einmal daran zu erinnern.

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