Das Glück mag traditionellerweise mit dem Kaminfeger durch den Schornstein ins Haus kommen, doch der Erfolg tritt neuerdings durch das Fenster in die weite Welt hinaus: «Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand» (2011) heisst der globale Bestseller-Roman des schwedischen Schriftstellers Jonas Jonasson (62) – die Geschichte über den Greis Allan Karlsson begeisterte in 45 Sprachen.
Die in den USA lebende Schweizer Schriftstellerin Milena Moser (60) scheint dieses Erfolgsrezept für ihren neuen Roman «Der Traum vom Fliegen» zu kopieren, wenn sie schreibt: «Und dann kauerte sie plötzlich auf dem Fensterbrett. Ohne darüber nachzudenken, war sie auf ihren Schreibtisch geklettert und durch die Fensteröffnung geschlüpft. Nun stand sie auf dem Dachvorsprung und breitete die Arme aus.»
Beginnen die beiden Bücher vordergründig auch ähnlich, sie unterscheiden sich doch grundsätzlich: Dort ist der 100-jährige Allan Karlsson von der Südostküste Schwedens, da die nicht ganz 20-jährige Sofia Gomez Bernasconi an der Nordwestküste der USA; dort der rüstige Rentner, der herumzieht, hier die träge Teenagerin, die zum Abnehmen in eine Klinik kommt – das eine ist ein Welttheater, das andere ein Kammerspiel.
Gruppentherapie wie in «Einer flog über das Kuckucksnest»
«Der Traum vom Fliegen» hat denn auch mehr mit dem Roman «Einer flog über das Kuckucksnest» (1962) des US-amerikanischen Autors Ken Kesey (1935–2001) gemein, dessen Stoff der tschechische Filmregisseur Milos Forman (1932–2018) 1975 mit Jack Nicholson (86) in der Hauptrolle so eindrücklich verfilmte: McMurphy (gespielt von Nicholson) kommt dort zur Gruppentherapie in eine psychiatrische Klinik.
Sofia wird in der Klinik Los Pajaritos (zu Deutsch: die Vögelchen) ebenfalls mit anderen Patienten konfrontiert: «Die Flügel der eisenbeschlagenen Türe schwangen von alleine und lautlos auf, bevor sie sie erreicht hatten. Ein stämmiger älterer Mann trat heraus. Er trug verwaschene Jeans und ein hellblaues T-Shirt mit dem Logo der Klinik, zwei stilisierten Vögeln im Flug. Wohin die wohl flogen, fragte sich Sofia.»
In der «Vögelchenklinik» soll Sofia wieder auf den Boden der Normalität kommen. Weil sie innerhalb eines Jahres fast 30 Kilogramm zugenommen hat, haben sich ihre beiden Papas Santiago und Giò dazu entschlossen, sie in die Klinik einzuweisen. Was ist der Grund für ihr Essverhalten? Weshalb hat sie innerhalb so kurzer Zeit so viel Gewicht zugelegt? Das Geheimnis kennt nur Sofia selber.
Milena Moser ist eine gewiefte Autorin – «Der Traum vom Fliegen» ist bereits ihr 14. Roman. Weil niemand ihren Erstling «Die Putzfraueninsel» (1991) veröffentlichen wollte, gründeten Freunde für sie kurzerhand einen Verlag mit dem ironischen Namen Krösus. Die Kassen klingelten danach, «Die Putzfraueninsel» entwickelte sich zum Bestseller, war 1996 in der Verfilmung mit Jasmin Tabatabai (56) sogar ein Kinoknüller.
Mit Büchern wie «Das Schlampenbuch» (1992), «Bananenfüsse» (2001) oder «Hinter diesen blauen Bergen» (2017) erreicht Moser meist Massen, manchmal Medien und selten Meinungsmacher in Jurys. Sie ist keine Preisträgerin, aber eine populäre Schreiberin – das beweist sie Woche für Woche mit ihrer Kolumne im SonntagsBlick Magazin, wo sie über ihr Leben in San Francisco mit ihrem Mann, dem mexikanischen Künstler Victor-Mario Zaballa (69), berichtet.
Ein dialogreiches und handlungsarmes Buch
Sie pflegt ihr Publikum, indem sie erfolgreiche Titel wieder aufgreift – etwa, wenn sie nach dem «Schlampenbuch» 2005 «Schlampen-Yoga» veröffentlicht. Oder sie lässt beliebte Figuren wieder aufleben wie Sofia, die wir bereits aus den Romanen «Mehr als ein Leben» (2021) oder «Land der Söhne» (2018) kennen – darin reiste die damals zwölfjährige Sofia mit ihrem Vater Giò nach New Mexico (USA), wo Grossvater Luigi eben gestorben war.
«‹Ich will mein eigenes Buch. Ich habe mehr zu sagen als ihr alle zusammen.› SOFIA» – das steht als trotziges Motto zu Beginn von «Der Traum vom Fliegen». Nun liegt das gewichtige Werk vor – fast 400 Seiten dick, über 400 Gramm schwer. Es ist auch ein wichtiges Werk, denn Moser schreibt sehr subtil über die problembeladenen Menschen in der Klinik, ohne daraus eine Freakshow zu machen.
Und Sofia hat viel zu sagen. Doch noch mehr reden andere auf sie ein – ihre Psychiaterin Doktor Rose; Emerald, mit der Sofia das Zimmer teilt; der geschwätzige Zach: «Ich bin der Letzte, der Frauen nicht reden lässt. Ich habe Sensibilitätstraining gemacht und Workshops in toxischer Maskulinität angeboten, und ich bin mir meines weissen Privilegs mehr als bewusst, das könnt ihr mir jetzt echt nicht anhängen!»
«Der Traum vom Fliegen» ist ein dialogreiches und handlungsarmes Buch, beinahe schon ein Theaterstück. Doch nach 300 Seiten entwickelt sich der Roman zu einem Krimi, als Blue, der Sohn der Klinikmasseurin Skye, ruft: «Sofia! Meine Mutter ist verschwunden.» Entführt von ihrem gewalttätigen Ex? Geflüchtet vor dem aufdringlichen Zach? Das verschworene Patiententrüppchen macht sich auf die Suche nach der Frau.
«And when she came back she was nobody’s wife» – und als sie zurückkam, war sie die Frau von niemandem: Auf diese Zeile eines Leonard-Cohen-Songs läuft der Roman hinaus. Es ist ein eigentliches Frauenbefreiungsbuch, denn am Schluss befreit sich Sofia von ihrem Body und kann endlich wieder fliegen: «Kühl strömte die Luft über ihr Gesicht und unter ihren Körper.» Ein traumhaftes Buch.
Milena Moser, «Der Traum vom Fliegen», Kein & Aber.