Milena Moser über Mitgefühl
Gute Menschen

Wieder regnete es, wieder war ich auf dem Weg zur Tramhaltestelle, als ich etwas Ungewöhnliches beobachtete. Eine kleine Geste, die mich tief berührte und gleichzeitig beschämte.
Publiziert: 20.11.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 18.11.2023 um 12:31 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Der Traum vom Fliegen» und ist soeben erschienen.
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Es lässt sich nicht ändern, dass meine Bücher entweder im Februar oder im November erscheinen, dass ich also immer zur denkbar unfreundlichsten Reisezeit in der eigentlich so schönen Schweiz unterwegs bin. Und ich kann es nicht leugnen, der graue Himmel verdüstert auch mich. Ich wehre mich dagegen, ich versuche, den kalifornischen Sonnenschein im Herzen zu behalten, aber die tiefhängende Nebeldecke drückt auf meine Seele.

So war ich also nicht in allerbester Laune, als ich mich durch Wind und Regen zur Tramhaltestelle durchkämpfte. Vor mir auf dem Trottoir ging eine junge Frau, die ziemlich laut telefonierte und dabei mal zur einen, mal zur anderen Seite schwenkte, sodass ich sie nicht überholen konnte. Sie trug Stiefel mit hohen Absätzen, was meine Laune nicht verbesserte. Seit ich mir die kleine Zehe gebrochen habe, kann ich nur vernünftiges Schuhwerk tragen.

Jedes Mal, wenn die junge Frau unabsichtlich meinen Weg versperrte, fiel mir ein anderes Detail auf, das mich nervte. Wer war im Winter so braungebrannt? So schwarze Haare mussten gefärbt sein! Und wer trug freiwillig so enge Hosen? Vor allem: Konnte sie nicht aufhören, zu telefonieren? Dabei halte ich mich gern für einen grosszügigen, toleranten Menschen. Leben und leben lassen – aber nicht im Regen, nicht, wenn ich es eilig habe!

Da blieb sie plötzlich stehen. Beinahe wär ich über sie gestolpert. Sie ging in die Hocke, klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr fest. «Wart schnell», sagte sie und klaubte mit spitzen Fingern nach etwas am Boden. Ihre Nägel waren, passend zu ihrer ganzen Art, lang und kunstvoll bemalt und verziert. Ich schnaubte. Doch gerade, als ich in Vorurteilen und
Miesepetrigkeit unterzugehen drohte, sah ich, was die Frau machte: Sie hob vorsichtig einen sich panisch ringelnden Regenwurm vom Trottoir hoch und trug ihn zu der Hecke an der Seite, wo sie ihn sanft absetzte. Dann wischte sie sich die Hände an einem Papiertaschentuch ab und setzte ihr Gespräch fort.

«Gruusig!», sagte eine Frau, die bereits unter dem Dach der Haltestelle stand, in bergtauglicher Freizeitkleidung. Eine Frau, der ich ein solches Verhalten eher zugetraut hätte. Ich tat, als hätte ich den Kommentar nicht gehört, und blieb in einigem Abstand zu ihr stehen.

Die Regenwurmretterin war jetzt aus meinem Blickfeld verschwunden, vielleicht arbeitete sie in einem der umliegenden Geschäfte. Ich dachte an einen Film, den ich einmal gesehen hatte, in dem tibetische Bauarbeiter zum Erstaunen und zur Irritation eines Europäers, der von Brad Pitt gespielt wurde, sorgfältig jeden Wurm aus der Gefahrenzone ihrer Schaufeln trugen. Es ist Jahrzehnte her, aber ich erinnere mich, wie mir diese Szenen die Grenzen meines eigenen Mitgefühls schmerzlich bewusst machten.

Wie viele Regenwürmer hatte ich schon totgetreten, ohne sie zu sehen? Und dann fiel mir die buddhistische Verkörperung des Mitgefühls ein, Avalokiteshvara, der aus Verzweiflung über das Leiden in der Welt und seine Unfähigkeit, es zu lindern, in tausend Teile zersprang. Und er auch mit tausend Augen und tausend Händen nicht nachkommt, dieses Leiden zu sehen und zu beenden. Doch er tut, was er kann. Mehr können wir alle nicht tun. Manchen Legenden zufolge verwandelte er sich in diesem Moment auch in eine Frau. Wer weiss, vielleicht trägt er hochhackige Stiefel und künstliche Nägel ...

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