Milena Moser darüber, dass Alleinsein nicht gleich ist wie Einsamsein
Zeit der Einsamen

Wer jetzt allein ist, spürt es hundertfach. Jedes Schaufenster, jede Werbung, jede blinkende Dekoration, selbst das Fernsehprogramm schlägt es einem um die Ohren. Die Feiertage zelebrieren das Zusammensein, die Familie. Einsamkeit ist jetzt nicht vorgesehen.
Publiziert: 18.12.2023 um 09:18 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Der Traum vom Fliegen» und ist vor kurzem erschienen.
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Mein Nachbar Georg führt seinen Hund spazieren, dessen Namen ich immer wieder vergesse, ein charmanter Bulldoggenmischling mit immer leicht angriffslustig vorgeschobenem Unterkiefer. Georg hat ihn nach dem überraschenden Tod seiner Frau aus dem Tierheim adoptiert, «ohne viel zu überlegen», sagte er damals, als wir ihm zufällig auf der Strasse begegneten.

Wir bewunderten den Hund, hatten keine Ahnung, was passiert war, es war alles so schnell gegangen. Ich weiss noch, wie ich in die Knie ging, um den Hund zu streicheln und auch um mein Erschrecken zu verbergen. Wie so oft fiel mir nichts Gescheites ein, das ich sagen könnte. 

Georg hat sich verändert seither, man sieht ihn jetzt viel öfter im Quartier, immer mit seinem Hund. Er hat seine Haare wachsen lassen, trägt einen Ohrring, eine schmale Sonnenbrille, gebleichte Jeansjacken mit Teddybärfutter. Wie es in diesen Tagen üblich ist, reden wir über unsere Pläne, wobei Victor und ich gar keine haben. Wir könnten uns was Schönes kochen, oder wir könnten Freunde besuchen. Georg wäre bei seiner Tochter eingeladen, die mit ihrer Familie an der Ostküste lebt. Sie würde ihm sogar den Flug bezahlen. Aber Georg bleibt hier: «Ich will mich nicht von Charlie trennen, nicht mal für ein paar Tage.» Charlie heisst der Hund, jetzt weiss ich es wieder. Ich frage ihn, ob er stattdessen an Heiligabend zu uns kommen will, aber er schüttelt den Kopf. «Ich bin nicht einsam», sagt er. «Ich bin genau genommen noch nicht mal allein.»

Allein zu sein, ist nicht dasselbe, wie einsam zu sein. Man kann das eine sein und das andere nicht. Man kann aber auch beides gleichzeitig sein. Darüber haben wir erst vor kurzem gesprochen. «Du weisst gar nicht, was Alleinsein heisst», hat eine Freundin zu mir gesagt, nicht vorwurfsvoll, eher beiläufig. Es ist so: Einsamkeit, tiefe, abgründige Einsamkeit kenne ich durchaus. Aber vor allem unter Menschen. Alleinsein hingegen empfinde ich als Privileg. Als etwas Selbstgewähltes und Vorübergehendes. Ausserdem sind meine Figuren immer bei mir.

«Imaginäre Freunde zählen nicht», meinte meine Freundin. «Allein bist du, wenn es niemanden interessiert, ob du nach Hause kommst oder nicht. Wenn niemand fragt, wie es dir geht. Wenn du niemanden anrufen kannst, wenn du nachts die Treppe hinunterfällst oder wenn die Wasserleitung einfriert.» Ich wollte ihr widersprechen: «Du hast doch mich», wollte ich sagen. Aber ich hielt den Mund. Das wusste sie, und darum ging es nicht. Es ging um sie. Um ihre Gefühle.

Und jetzt frage ich mich, ob ich Georg mit meinem gut gemeinten Angebot nicht verletzt habe. Ob es für ihn nicht zynisch klingt: Komm doch zu uns! Schau dir an, wie glücklich wir sind, wie gut es uns geht. Frage dich, warum Victor immer noch lebt, obwohl ihn die Ärzte seit zwanzig Jahren totschreiben, während deine kräftige, lebenslustige Amy innert drei Monaten dahingerafft wurde. Ich bin beschämt. «Tut mir leid», murmle ich. «Ich wollte nicht ...»

Georg schüttelt den Kopf. Er scheint zu verstehen, was ich meine. «Schon gut. Um mich musst du dir keine Sorgen machen. Mach dir lieber Sorgen um die, die du nicht mehr auf der Strasse antriffst.» Charlie zieht an der Leine, er hat genug gehört. Georg hebt die Hand zum Gruss und geht weiter. Ich schaue ihm nach und versuche, die Schatten auf dem Trottoir zu erkennen, die Umrisse derer, die wir nicht mehr sehen.

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