Warum ich ausgerechnet jetzt daran denke, warum mir diese längst vergessen geglaubte Episode plötzlich wieder einfällt? Vielleicht, weil ich mich gerade in der Schweiz aufhalte, wo auch meine Erinnerungen wohnen. Oder vielleicht, weil wir unter Freundinnen wieder mal dieses ewige Thema durchgenommen haben: Um Hilfe zu bitten, Hilfe annehmen können und warum das so schwierig ist.
Und da sah ich ihn vor mir, den handgeschriebenen Brief, den ich vor vermutlich etwa 28 oder 29 Jahren bekommen habe. Damals stand meine Adresse noch im Telefonbuch und meine Nummer auch. Ich bekam oft handgeschriebene Briefe, und einmal rief eine Frau an, die behauptete, im Fürstenpalast von Monaco als Putzfrau gearbeitet zu haben. Aber das ist eine andere Geschichte.
Jetzt denke ich an den sehr freundlichen Brief einer Leserin, die meine Bücher mochte. So sehr, dass sie sich Sorgen machte, ob ich denn überhaupt noch zum Schreiben käme. Sie hatte nämlich erfahren, dass ich ein zweites Kind bekommen hatte, und fragte sich, wie ich das alles hinkriegen würde. Das fragte ich mich allerdings auch. Oder eher, ich brach regelmässig weinend zusammen, überfordert und schuldbeladen.
Die Briefschreiberin erschien in diesem Moment wie ein Engel, den das Schicksal mir geschickt hatte. Sie habe selbst drei Kinder, erzählte sie, und geniesse das Privileg, nicht ausser Haus arbeiten zu müssen. Sie bot an, meinen Sohn nachmittagsweise bei sich zu Hause zu betreuen. «Das kann ich gut», schrieb sie sinngemäss. «Und du kannst gut schreiben. Lass mich dir helfen.»
Ich weiss noch, wie alles in mir weich wurde, als ich ihren Brief las. Wie gerne ich Ja gesagt hätte. Doch dann mischte sich diese alte innere Schulmeisterin ein, diese nörgelnde Stimme, die mir so oft das Leben schwer gemacht hat. «Du wolltest doch unbedingt ein zweites Kind», sagte sie. «Wie man sich bettet und so weiter!»
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Diese Stimme sollte mich ein halbes Leben lang begleiten. Geholfen hat sie mir nie, auch in diesem Moment nicht. Ich seufzte, ich riss mich zusammen, ich bedankte mich für das grosszügige Angebot – und lehnte es ab. Wie die komplette Idiotin, die ich damals war. Ich tat so, als hätte ich alles im Griff. Das Gegenteil war der Fall.
Ich hätte den Brief aufbewahren, auf ihn zurückkommen sollen: «Gilt dein Angebot noch? Stellt sich raus, ich brauche tatsächlich Hilfe!»
Aber nein. Ich löschte das Angebot aus meinem Gedächtnis, als sei es nie gemacht worden. Denn auch das ist typisch für uns, die wir keine Hilfe annehmen können: Wir haben einen blinden Fleck, da, wo sie uns angeboten wird. Wir sehen die ausgestreckte Hand vor unserer Nase nicht. Wir fühlen uns allein und hoffnungslos, während wir solche wunderbaren Angebote ignorieren oder ablehnen. Die ausgestreckte Hand zu sehen und auch zu ergreifen, erfordert ein Mass an Vertrauen, das wir offenbar nicht haben. Das ich jedenfalls garantiert nicht hatte.
Aber jetzt? Bin ich nicht heute zuversichtlicher, optimistischer als damals? Oder ist diese Unfähigkeit Ausdruck einer besonderen Form der Überheblichkeit? Eine Art Göttinnenkomplex?
Da fällt mir wieder Jane Fonda und ihr Konzept des dritten Aktes ein, der mit dem sechzigsten Geburtstag beginnt. «Was hast du noch nicht ausgelebt, was kannst du noch nicht?», fragt sie. Ja, Frau Fonda, ich hab noch viel zu lernen ...