Milena Moser darüber, wie die Erfahrung von Armut nachwirkt
Trüffelgau

Es ist ja nicht so, dass wir nie streiten, Victor und ich. Wenn es um die wesentlichen Dinge des Lebens geht, wie zum Beispiel Schokolade, dann fliegen schon mal die Fetzen. Aber im Grunde geht es ja nie um die Schokolade.
Publiziert: 10.12.2023 um 09:48 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Der Traum vom Fliegen» und ist vor kurzem erschienen.
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

«Wir müssen reden.» Worte, die niemand gerne hört. Worte, die nichts Gutes verheissen. Auch in diesem Fall nicht. Meine Stimme zitterte ein wenig, als ich sie aussprach. Victor setzte sich, er fürchtete das Schlimmste. Meine Kehle war eng, der Schock sass mir noch in den Knochen, das Gefühl des Verrats, das ich empfand, als ich den Kühlschrank im Atelier öffnete, wo Victor seine Medikamente aufbewahrt. Und da sah ich es: eine Schachtel Champagnertrüffel, die ich ihm vor Monaten mitgebracht hatte. Monaten! Dabei stand doch extra noch drauf, man solle sie sofort geniessen!

Ich öffnete die Schachtel, sie war noch beinahe voll. Aber die Trüffel steinhart und von einer milchigen Schicht überzogen. Mit Todesverachtung warf ich sie in den Abfall. 

«Du hast die Champagnertrüffel vergammeln lassen!», brach es aus mir heraus. Er starrte mich an. Wagte nicht, mich zu bitten, diese Worte zu wiederholen. Jetzt ist es passiert, Moser, dachte ich. Jetzt bist du endgültig übergeschnappt. Und dann musste ich lachen. Erleichtert stimmte Victor ein. Heute ist der Trüffelgau eine lustige Anekdote, eine Geschichte, die wir gerne erzählen, gerade weil sie so absurd ist.

So absurd wie im Grunde jeder Streit. Und wie jeder Streit hatte auch dieser nichts mit dem oberflächlichen Auslöser zu tun, sondern vielmehr mit unseren unterschiedlichen Lebenswelten. Konflikte entstehen, wenn man die eigene Erfahrung mit der Realität verwechselt, als absoluten Massstab annimmt. Passiert den Besten unter uns. Dabei haben wir einen grossen Vorteil, Victor und ich.

Wir sind, im Unterschied zu vielen interkulturellen Paaren, beide fremd hier. Und wir sind oft ähnlich verwirrt und überfordert, amüsiert und irritiert. Das eint uns. Und lässt uns manchmal vergessen, dass wir nicht unterschiedlicher aufgewachsen sein und gelebt haben könnten. Der tiefgreifendste Unterschied zwischen unseren Lebenswelten liegt allerdings nicht in der Sprache oder der Kultur, sondern in der Erfahrung bitterster Armut. Das ist etwas, von dem ich keine Ahnung habe. Ohne Sicherheitsnetz zu leben, war immer meine freie Entscheidung. Und egal, wie knapp es manchmal wurde, zu essen hatte ich immer. Ein Dach über dem Kopf auch.

Victor nicht. Was das heisst, werde ich nie wirklich nachvollziehen können.

Armut ist kein intellektuelles Konzept, sie ist eine körperliche Erfahrung. Zu hungern, zu frieren, nicht zu wissen, wo man schlafen wird. Die damit einhergehende, nagende Angst, die ständige Wachsamkeit. Sie ist in jeder Zelle verankert, auch nach Jahrzehnten in relativem Wohlstand und in Sicherheit. Kein Wunder, hamstert Victor Schokolade, bis sie nicht mehr schmeckt. Dass ich das zwischendurch wieder vergesse, liegt auch daran, dass er kaum darüber spricht.

Echte Armut ist erniedrigend, nicht etwas, was man gerne teilt. Menschen, die sich ständig darüber beklagen, wie wenig sie haben, sind selten in echter, physischer Not, so viel hab ich in den letzten Jahren immerhin gelernt. Victor redet lieber darüber, wie gut wir es haben. «Ist es nicht toll, ein Dach über dem Kopf zu haben?» Etwas, das ich bisher immer als selbstverständlich angenommen habe. So lernen wir voneinander. Dankbarkeit, Vertrauen.

Natürlich habe ich ihm auch von dieser Reise Champagnertrüffel mitgebracht, die Schachtel ist schon halb leer. Draussen regnet es. Wir sind im Trockenen. In der Küche ist es warm.

«Haben wir es nicht gut?»

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