Eigentlich liebe ich sie, diese «Tage zwischen den Tagen», wie meine Mutter sie immer nannte. Tage, in denen wenig passiert, wenig erledigt und wenig erwartet wird. Ruhige Tage, die endlich die Besinnlichkeit möglich machen, die während der Feiertage beschworen, aber von der allgemeinen Hektik verunmöglicht wurde. Zeit, in Schubladen und Schachteln zu wühlen, Erinnerungen herauszufischen, verloren geglaubte Gegenstände wiederzufinden. Zeit, den Stapel ungelesener Bücher abzutragen, die Sonntagszeitungen des letzten Monats nachzulesen, die Reste vergangener Festmahle aufzuwärmen und am Küchentisch zu essen. Im Pyjama.
Zeit, den Gedanken nachzuhängen, Erinnerungen aus den Tiefen des Gedächtnisses auftauchen zu sehen wie Luftblasen.
Es ist aber auch die Zeit der erzwungenen Jahresrückblicke. Wie war das Jahr, war es gut, war es schlecht? Wie warst du, was hast du erreicht, was hast du erlebt, was sind deine Highlights? Von allen Seiten werde ich damit überflutet, danach gefragt. Gerade meine amerikanischen Freunde neigen dazu, zum Jahresende ihre Kürzest-Zusammenfassungen zu verschicken, ein dicht bebildertes Best-of: Reisen werden erwähnt, berufliche Meilensteine, die schulischen Leistungen der Kinder und Kindeskinder.
Alles strahlt, alles glänzt. Man könnte meinen, sie seien das ganze Jahr lang elegant von Erfolg zu Erfolg gehechtet, von Höhepunkt zu Abenteuer. Dabei vergessen sie, dass wir uns ja kennen, dass ich dabei war, als das Auto mitten auf der Brücke den Geist aufgab, als der Job umstrukturiert wurde, der Sohn Türe schlagend aus der Wohnung stürmte, die neue Freundin plötzlich doch «andere Optionen erkunden» wollte. Ich weiss, dass ihr Jahr genauso durchzogen war wie meins.
Eine Freundin hat den Spiess umgedreht und alle ihre Tiefpunkte aufgelistet: die Traumferien, die einer Zahnbehandlung zum Opfer fielen, die Feiertage, die sie allein verbrachte. Doch auch das ist eine Wertung. Ich merke, dass ich immer weniger Lust habe, da mitzumachen. Etwas in mir wehrt sich dagegen, mein gelebtes Leben so zu beurteilen, zu sortieren und zu bewerten.
Das hat auch mit der Lage der Welt zu tun. Es scheint, dass jedes Jahr das letzte an Elend und Grauen noch übertrifft, neue Katastrophen, Kriege, Terrorakte bringt. So sehr ich mich bemühe, der Angst und dem Zorn nicht zu viel Platz einzuräumen, die Dankbarkeit dagegenzuhalten – manchmal verlässt mich der Mut. Dann möchte ich nur den Kopf auf die Tischplatte legen. Doch was kann das Jahr dafür? Das Jahr war einfach das Jahr.
Etwas in mir sträubt sich dagegen, meine Momente zu bestimmen, sie einzufangen und festzunageln. Es macht mich traurig, so wie mich der Anblick aufgespiesster Schmetterlinge hinter Glas traurig macht. Momente sind flüchtig, die glücklichen wie die schmerzhaften. Sie schillern im Licht, sie verändern sich aus der Distanz, in der Erinnerung.
Eine der schwierigsten Zeiten war bestimmt die um meinen Geburtstag, als Victor einmal mehr mit einer lebensbedrohenden Sepsis in der Notaufnahme landete. Als es passierte, verfluchte ich das Schicksal, das immer wieder auf jemanden einprügelt, der schon so viel gelitten hat. Ich haderte mit meiner Unfähigkeit, den Menschen, den ich so liebe, zu schützen. Und ich hatte Angst.
Gleichzeitig waren es innige Tage, in denen ich auch die Nähe und Unterstützung meiner Freundinnen so stark spürte wie selten. Und erst jetzt, all die Monate später merke ich, wie sehr mich diese Tage geprägt und verändert haben. Jede Erfahrung verändert uns. Wir sind ständig in Bewegung. Wie die Zeit, der Tag, das Jahr. Das Jahr, das war.