Steph wäre die Letzte, die ich mir in einer Kommune vorstellen kann. Mit ihren glattgeföhnten, weissen Haaren, ihren eleganten Blazern und Seidentüchern habe ich sie immer für eine reiche Erbin gehalten. Sie muss lachen: «Wer sagt, dass ich nicht beides sein kann? Dies ist Amerika, Baby!»
Äusserlichkeiten sind trügerische Anhaltspunkte, nicht nur in Amerika. Das sollte ich langsam wissen. Steph zuckt mit den Schultern. «Es kommt mir auch wie ein anderes Leben vor», sagt sie. «Mein verstorbener Mann und ich, wir waren in den 70er-Jahren voll auf dem Hippietrip, zurück zur Natur und so.»
So zogen sie ins hinterste Hinterland irgendwo in Texas, zwei Familien mit Kindern und wechselnde Einzelpersonen, Ausreisser, Dienstverweigerer. «Wir wollten den Grundstein zu einer besseren Gesellschaft legen», sagt sie. «Du weisst schon, ohne Geld, ohne Ehrgeiz, ohne Gier. Nur mit dem, was die Natur hergibt, was wir selbst herstellen oder allenfalls tauschen können ...»
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Sie beschreibt, wie sie in ihrem VW-Bus durch die kleine Gemeinde fuhren, gefühlt von hundert Augenpaaren verfolgt. Die Nachbarn, einfache Farmer und Fabrikarbeiter, beobachteten sie mit grossem Misstrauen, wenn nicht gar feindselig. Doch dann fiel der VW-Bus einer Kollision mit einem Hirsch zum Opfer. Der Abschleppwagen gehörte einem Nachbarn, und da sie kein Geld hatten, tauschten sie seine Dienste gegen den toten Hirsch. Und am selben Abend wurden Tische und Stühle auf die Strasse gestellt, und es gab Hirschburger für alle. Die Farmen lagen weit auseinander, nicht alle hatten einen Telefonanschluss. Aber irgendwie hatten alle von dem unverhofften Festmahl gehört, und jeder trug etwas dazu bei.
«Wir waren ja eigentlich Vegetarier», sagt Steph. «Aber in dem Moment war etwas anderes wichtiger.» Sie brachten Tomaten und Zwiebeln aus ihrem Garten mit und waren von da an akzeptiert. «Damals lernte ich die wichtigste Lektion meines Lebens: Egal, wie wenig du hast, es wird immer geteilt und immer etwas angeboten. Egal, wer zur Tür reinkommt.»
Diese Regel half ihr ein paar Jahre später, eine Schiesserei zu verhindern. «Einer unserer Nachbarn war Vietnamveteran, ein Einzelgänger, ein unheimlicher Typ – vermutlich litt er unter posttraumatischem Stresssyndrom.» Der korrupte Gemeinderat hatte damals einige Farmer um ihr Land betrogen, und viele waren wütend. Bei einer Versammlung tauchte plötzlich der Veteran im kleinen Rathaus auf, mit sämtlichen Waffen behängt, die er besass, und das waren nicht wenige.
Er begann, wild um sich zu schiessen, doch wie durch ein Wunder wurde niemand getötet. Trotzdem wurde in den Fernsehnachrichten vor einem gefährlichen Terroristen auf der Flucht gewarnt.
«Wir hatten allerdings keinen Fernseher und bekamen die ganze Aufregung nur so am Rande mit. Da stand ich also in der Küche und rührte einen Bohneneintopf an, als er plötzlich hereinstürmte und mit seinem Gewehr herumfuchtelte. Einfach aus Gewohnheit und ohne nachzudenken, sagte ich: ‹Setz dich, das Essen ist gleich fertig.› Und er, wohl auch aus reiner Gewohnheit, setzte sich an den Tisch und ass drei Schüsseln von meinem Eintopf. Dann bedankte er sich höflich und ging wieder. Wir haben die Polizei nicht gerufen, aber er wurde trotzdem bald darauf gefasst.»
Steph schweigt einen Moment. «Er hat wohl nie die Hilfe bekommen, die er gebraucht hätte. Aber wenigstens hat er noch eine anständige Mahlzeit gegessen!»