Wenn es um Zimtschnecken geht, kann ich einen geradezu missionarischen Eifer entwickeln. Dieses typisch amerikanische Frühstücksgebäck ist meist viel zu zuckrig und klebrig, eigentlich ungeniessbar, ausser man geht zu Xan. Sie hat eigentlich Kunst studiert, Victor war einer ihrer Lehrer. Doch schon damals träumte sie von einer eigenen Bäckerei. Das rührt mich, denn meist ist es ja umgekehrt, meist träumt jemand in einem bürgerlichen oder handwerklichen Beruf von der Kunst.
Doch Xan hat bestimmt die richtige Entscheidung getroffen, ihre Zimtschnecken sind Kunstwerke, die Bäckerei floriert, und jetzt hat sie auch ein eigenes Café im Mission District. Und da sass ich neulich mit einer Schweizer Freundin, als Xan an unseren Tisch trat. Wie immer brachte sie mir eine Tüte Gebäck «für den Maestro», wie sie Victor nennt. Dann wischt sie sich die Hände an der Schürze ab. «Das war ja wirklich easy», sagt sie. «Genau, wie du es versprochen hast: keine Bodyguards, keine Limousinen, kein Getue.»
Meine Freundin starrt mich aus weit aufgerissenen Augen an. Ich erkläre ihr, dass ich vor ein paar Monaten eine Delegation der Stadt Zürich in Xans Bäckerei und Café gebracht habe, nicht nur, um sie mit Zimtschnecken zu füttern, sondern auch, um ihnen das Wandgemälde an der Aussenmauer zu zeigen. Dass die Stadtpräsidentin mit dabei sein würde, hatte Xan erst einmal verunsichert. Sie war nicht sicher, ob ihr kleines Lokal solch prominenten Gästen gewachsen wäre. Doch wie gesagt, es war «wirklich easy». Meine Freundin versteht sofort: «Das ist bei uns einfach so», bestätigt sie. «Sogar der Bundespräsident fährt mit dem Zug!» Mit «uns» meint sie die Schweiz, das Land, das sie lange vor mir verlassen hat. Doch in solchen Momenten wissen wir, wo unser Herz schlägt.
«Bei uns konnte auch Tina Turner ungestört im Dorfladen einkaufen, wo man sie Frau Törner nannte», füge ich hinzu, obwohl ich das nur aus dritter Hand weiss. Wir schauen uns an, zwei freiwillig Ausgewanderte, plötzlich von tiefem Nationalstolz erfüllt. Und dann fällt mir ein, dass ich vor Jahren einmal zu einem Literaturpodium in Ljubljana eingeladen war, zusammen mit österreichischen und deutschen Kollegen. Vertreter aller drei Länder und ihrer Kulturorganisationen besuchten unsere Veranstaltung. Schon beim Essen fragte mich der Österreicher, ob alle Schweizer so cool seien wie unser Botschafter.
«Cool?»
«Ja, der redet mit uns wie ... wie ein normaler Mensch eben.»
Die Lesung am Abend war wider Erwarten ausverkauft, jeder Platz besetzt, die Veranstalter legten Sitzkissen auf den Fussboden. Und dann geschah es: Während die Vertreter der Nachbarländer mit verschränkten Armen warteten, bis ihre Plätze freigegeben wurden, setzte sich unser Botschafter seelenruhig auf eines der roten Kissen auf dem Boden. Ich möchte gern behaupten, dass unter seinem Anzug rote Socken zum Vorschein kamen, als er sich in den Schneidersitz brezelte, aber ehrlich gesagt weiss ich das nicht mehr so genau. Ich weiss aber noch, wie ich meine Kollegen anschaute. «Das ist die Schweiz», flüsterte ich. «Merkt ihr was?» Und sie nickten beeindruckt. Und in diesem Moment spüre ich dieses für mich eher seltene Aufwallen von Nationalstolz wieder so deutlich wie damals.
Meine Freundin greift nach meiner Hand. Ihre Augen glänzen. Xan wird es jetzt ein wenig zu viel, sie verzieht sich wieder hinter den Ofen. «Vergiss deine Zimtschnecken nicht», ruft sie mir über die Schulter zu.