Milena Moser über das gemeinsame Essen
Setz dich hin, iss etwas

Der Januar ist ja eigentlich der Monat der Fastenkuren und neu angekurbelten Diäten. Aber mir hat eine Begegnung neulich wieder bewusst gemacht, wie wichtig und wie verbindend, wie tröstlich das Essen ist, das Kochen, das Teilen von Mahlzeiten.
Publiziert: 08.01.2024 um 07:59 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Der Traum vom Fliegen» und ist vor kurzem erschienen.
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Elena war einmal meine Ballettlehrerin, als ich vor Jahren einen meiner ungelebten Mädchenträume verwirklichen wollte. Ich mochte sie so sehr, dass ich den Kurs abbrach, als ihr gekündigt wurde. Ich war nicht die Einzige. Heute unterrichtet Elena gar nicht mehr, sie hat endlich einen halbwegs festen Platz in einem Ensemble. Doch ihre Eltern wohnen in meiner Gegend, und so treffen wir uns manchmal im Café an der Ecke. Mir kommt es immer so vor, als müsste sich Elena von ihren Besuchen erholen. Sie ist in San Francisco aufgewachsen und zur Schule gegangen und ungefähr im Alter meines jüngeren Sohnes. Anfangs versuchte ich, Überschneidungen und Gemeinsamkeiten zu finden, nur um immer wieder an die unsichtbare Grenze zu stossen, die selbst in dieser scheinbaren liberalen Stadt zwischen Kulturen und Gesellschaftsschichten in Stein gemeisselt ist. Die Tochter ungelernter Einwanderer aus Mexiko erlebt eine ganz andere Realität als der Sohn von Schweizer Künstlern. Dass Elena Tänzerin wurde, geht vor allem ihrer Mutter gegen den Strich. Dafür ist sie doch nicht ausgewandert! Dafür hat sie nicht all die Strapazen auf sich genommen! Elenas ältere Schwester ist Anwältin. Und verheiratet. Sie lebt den amerikanischen Traum der Eltern. Elena versucht, ihren eigenen zu finden. 

«Meine Mami hat beginnende Demenz», erzählt sie jetzt. Noch ist sie zu Hause gut aufgehoben, ihren Vater hat Elena immer als fürsorglich und grosszügig beschrieben. Und die Schwester, die «gute» Tochter, wohnt auch nicht weit. «Die Diagnose war ein Schock – aber ich sag dir, sie hat auch ihre guten Seiten.»

Elena zieht ihr Telefon hervor und zeigt mir ein Bild: eine klein gewachsene, rundliche Frau in einer Küchenschürze über traditionell bestickter Bluse, mit streng zurückgekämmtem Haar. Sie strahlt übers ganze Gesicht, die Arme um Elena und eine burschikose Amerikanerin in einer Outdoorweste gelegt.

«Ist das ... Molly?» Molly ist Elenas Freundin. Eine Beziehung, die sie bisher vor ihren Eltern geheim halten musste. Jetzt grinst sie. «Das Erste, was meine Mami vergessen hat, sind ihre Vorurteile! Sie weiss nicht mal mehr, was für eine Enttäuschung ich bin. Und jetzt kann ich nach Hause bringen, wen ich will!» Sie schiebt das Bild zur Seite, auf dem nächsten sitzt sie an einem reich gedeckten Küchentisch. Gefährlich hochgetürmte Tortillas stehen neben Schüsseln voller bunter Zutaten: rote Tomaten, weisse Zwiebeln, grüne Chilischoten und Koriander. So ähnlich sieht es bei uns auch aus, wenn wir Besuch haben. Zwischen Elena und ihrer Mutter sitzt eine bühnenfertig herausgeputzte Person unbestimmten Geschlechts. Wieder strahlt die Mami stolz über beide mehlverschmierte Backen.

«Sie kocht den ganzen Tag und egal, wer zur Tür reinkommt, sie sagt immer gleich: ‹Komm rein, setz dich. Du hast doch bestimmt Hunger!› Es ist grossartig.»

Und berührend. Victor hat mir einmal erzählt, dass man in traditionellen mexikanischen Familien so begrüsst wird: «Setz dich und tu mir die Ehre, teil etwas gekochtes Wasser und eine Prise Salz mit mir!» Egal, wie wenig man hat, es wird geteilt. 

«Ich weiss, dass es schwer werden wird», sagt Elena jetzt etwas leiser. «Aber im Moment geniesse ich meine Mami einfach – eine Mami, die ich nie hatte.»


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