Bruno und Loredana Facci kümmern sich um ihren psychisch erkrankten Bruder beziehungsweise Vater
«Ich habe viele Tränen verdrückt»

Zwei Millionen Erwachsene in der Schweiz stehen aktuell einem Menschen mit einer psychischen Erkrankung bei. Zu ihnen gehören Bruno Facci und seine Nichte Loredana. Was sie als Angehörige umtreibt, was sie bräuchten – und an wen sie immer zuerst denken.
Publiziert: 20.03.2024 um 00:11 Uhr
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Aktualisiert: 08.04.2024 um 11:46 Uhr
Loredana Facci ist die Tochter, Bruno Facci der Bruder eines psychisch kranken Mannes.
Foto: Linda Käsbohrer
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

30 Jahre ist es her, als Bruno Facci (71) einen Anruf bekam, der sein Leben verändern sollte. Sein Bruder Guido sei mit dem Auto verunfallt und auf den Notfall gebracht worden. Guido Facci war nicht verletzt, benahm sich aber äusserst auffällig. Sonst so korrekt auftretend, war er nun herrisch und distanzlos. «Ich war total schockiert, meinen Bruder so zu sehen», sagt Bruno Facci. «Und ich spürte sofort: Das ist der Beginn einer neuen Zeitrechnung.»

Der Bruder verbrachte nach dem Unfall Monate in der psychiatrischen Klinik in Wil SG, wo Bruno Facci selbst als Psychiatriepfleger arbeitete. Das Krankheitsbild des eineiigen Zwillingsbruders war ihm von Berufes wegen vertraut: manisch-depressiv nannte man es damals, heute spricht man von einer bipolaren Störung.

Der Vater war lange Zeit abwesend

Zu jener Zeit war Guido Faccis jüngstes Kind Loredana (37) eine Primarschülerin. Sie hat vage Erinnerungen an die erste Zeit der Krankheit des Vaters. Über Monate war er nicht zu Hause, dann doch wieder, dann wieder in einer Klinik. Später baute sie eine gute Beziehung zu ihm auf, unternahm viel mit ihm. Wenn es ihm denn gut ging.

Bruno Facci sei die Nummer eins bezüglich Ansprechpersonen für ihren Vater, sagt Loredana Facci.
Foto: Linda Käsbohrer

Bruno und Loredana Facci sind Angehörige eines psychisch Erkrankten. So wie aktuell 2,1 Millionen Erwachsene in der Schweiz, wie die repräsentative Studie der Angehörigenvereinigung Stand by You Schweiz zeigt. Die Sotomo-Studie richtet erstmals den Scheinwerfer auf ihre Bedürfnisse und Belastungen. Im Alltag ist es für Angehörige und Vertraute nicht einfach, eigene Belastungen zu thematisieren. «Die Aufgabe der Angehörigen ist, immer den Fokus auf die andere Person zu legen», sagt Loredana Facci aus St. Gallen. 

Für den Bruder immer zur Stelle

Seit 30 Jahren wird Bruno Facci gerufen, wenn mit dem Bruder etwas ist. Er tritt als Fürsprecher seines Bruders auf, der seit einigen Jahren in einem Pflegeheim in der Ostschweiz lebt. Ein Beispiel: Nach einem Klinikeintritt sei einiges schiefgelaufen; dem Bruder seien Psychopharmaka gegeben worden, die er schon einmal nicht gut vertragen habe. «Er konnte plötzlich nicht mehr laufen, war in sich verschlossen, es war kein Kontakt zu ihm möglich.»

Die Abwärtsspirale drehte sich dann schnell: Lungenentzündung, Lungenembolie, Reha, weiterhin kein Durchdringen zu ihm. Eine Elektro-Krampf-Therapie lehnte die Familie ab. Dann könne man nichts mehr tun, beschied die Klinik den Angehörigen. «Es ist so viel schlecht gelaufen, da habe ich mich bei den Ärzten beschwert», sagt Bruno Facci. Für seinen Zwilling kniet er sich unermüdlich rein.

Diskussionen mit den Fachpersonen

Bruno Facci ist auch in der Rolle eines Begleiters: Ab und zu nimmt er den Bruder, der in gesundheitlich guten Zeiten für die Kultur brannte, ins Theater mit. Dann seien manchmal gute Gespräche möglich. Er spüre von Guido, dass dieser eigentlich noch wolle, dass etwas in ihm stecke. «Ich suche immer wieder Strohhalme, Ideen, Möglichkeiten, wie er unterstützt werden kann.»

Bruno Facci engagiert sich unermüdlich für seinen Bruder, unter anderem in der Rolle eines Fürsprechers und Begleiters.
Foto: Linda Käsbohrer

Die Belastungen der Angehörigen-Rolle sind spürbar, wenn man Bruno Facci über seinen Bruder sprechen hört. Er benennt es auch selbst: «Ich habe im Stillen viele Tränen vergossen.»

Der ehemalige Psychiatriepfleger diskutiert auf Augenhöhe mit behandelnden Fachpersonen. Das mache ihn privilegiert, sagt er, und gibt zu bedenken: «Die meisten Angehörigen haben nicht den beruflichen Hintergrund, den ich habe. Sie können ihre Anliegen weniger gut durchsetzen.» Dann könnten die Institutionen einfach zuarbeiten, wie es ihnen passe. «Das finde ich traurig.»

Loredana Facci war eine Primarschülerin, als ihr Vater psychisch erkrankte.
Foto: Linda Käsbohrer

Sein Wissen und seine Erfahrungen teilt er, wenn er das Kontakttelefon für Angehörige von psychisch Kranken in der Ostschweiz hütet, oder wenn er sich in der Angehörigenbewegung engagiert, sei es in der Ostschweizerischen VASK oder bei Stand by You Schweiz. 

Angehörige besser einbinden

Wichtig wäre es, sagt Loredana Facci, dass Angehörige eine gute Anlaufstelle hätten. «Unser Leben änderte sich damals von einem Tag auf den anderen. Die Familie hat so viele Fragen, bleibt aber auf sich allein gestellt, wenn es heisst, dass die Angehörigenbetreuung der Klinik auf zwei Stunden am Mittwochnachmittag beschränkt ist.»

Für Loredana Facci und ihren Onkel Bruno wäre es entscheidend, die Angehörigen besser einzubinden. In Entscheide zu Behandlung, Unterbringung, Anschlusslösungen. Das geschehe viel zu wenig. Bruno Facci sagt: «Wir Angehörigen wollen dazu beitragen, die Psychiatrie wirksamer und menschlicher zu machen.»

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