Die Krise im mittleren Alter
Warum Frauen plötzlich mehr Raum für sich brauchen

Nicht mehr jung, noch nicht alt – und zunehmend unzufrieden und eingeengt: Das mittlere Alter ist keine Station, sondern eine Zeit der Entwicklung und Krise. Drei persönliche Frauen-Geschichten und Hinweise von Expertinnen, worauf es im mittleren Lebensalter ankommt.
Foto: Philippe Rossier
Warum Frauen im mittleren Lebensalter plötzlich mehr Raum für sich brauchen
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft
Publiziert: 07.01.2024 um 13:23 Uhr
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Aktualisiert: 08.01.2024 um 15:21 Uhr

Paula hatte immer wieder einen Traum. Sie entdeckt ein Zimmer in ihrem Haus. Ein Zimmer, das sie bisher übersehen hatte. «Im Traum fühlte ich mich so glücklich», erinnert sich die 52-Jährige. Ein Raum nur für sie! Heute hat sie ein eigenes Zimmer in ihrem Haus – möglich machte es eine Zimmerrochade nach dem Ausbau des Estrichs. Mit dem Bezug ihres Zimmers verschwand der Traum. «Das Thema ist aber grösser als das Zimmer», sagt sie beim Gespräch am Stubentisch, «es ist eine Sehnsucht.»

Bei Paula brach der Drang nach Veränderung vor etwa vier Jahren durch.
Foto: Philippe Rossier

Die Sehnsucht nach mehr Freiraum, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit treibt Katrin (50) um, seit sie mit 25 Jahren zum ersten Mal Mutter wurde. Als das Ende der Familienphase greifbar wurde, wuchs der innere Druck. Bei einem Treffen an einem verhangenen Regentag in einem Café erzählt sie, ihre Rolle in der rund 20 Jahre dauernden Beziehung sei durch das eigene Elternhaus geprägt gewesen. Ihr Fokus: die beiden Töchter. Beruflich stand Stabilität im Vordergrund, sie arbeitete Teilzeit in einem sozialen Projekt, später als Angestellte im Weinhandel.

Aus diesen Rollenerwartungen wollte sie nun ausbrechen, beruflich ihren eigenen Weg finden, sich selbständig machen. Mit der geplanten beruflichen Verwirklichung sollte auch ihre persönliche Situation neue Impulse erhalten.

Katrin trug dieses Foto eines lichtdurchfluteten Ateliers seit 2008 als Einstiegsseite in ihrem Tagebuch mit sich. Das Bild steht für einen Sehnsuchtsort.
Foto: zvg

Sie wollte Raum für sich und schlug ihrem Mann je eigene Wohnungen vor. Er konnte sich mit ihren Ideen nicht anfreunden. «Meine Bedürfnisse waren konträr zu jenen meines Mannes», sagt sie. Er habe sich nach bewegten Berufsjahren als Künstler nach einem ruhigeren Leben, nach Struktur gesehnt, erzählt sie. Ihre Vorstellungen brachten sie nicht in Einklang. Drei Jahre ist es her, seit sie als Paar getrennte Wege gingen.

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«Wenn meine Tochter auszieht, will ich allein leben.»
Leoni
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So weit wird es bei ihr nicht kommen, hofft Leoni (45). Die Mutter einer neunjährigen Tochter sagt schon heute: «Wenn unsere Tochter auszieht, will ich allein leben.» Eine Vorstellung, die mehr ist als ein heimlicher Traum. Mit ihrem Partner spricht sie offen darüber. «Er versteht noch nicht, dass dieser Wunsch eben keine Aufkündigung unserer Beziehung ist», sagt Leoni. Und schiebt mit einem Schmunzeln nach, er habe ja noch Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.

Leoni träumt von einer Wohnung für sich allein.
Foto: Philippe Rossier

Drei Frauen, die sich nicht kennen, in drei verschiedenen Städten, in drei verschiedenen Situationen. Ein Thema verbindet sie: die Sehnsucht nach Freiraum. Nach Freiheit und Selbstbestimmung, nach Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeit.

Am Tiefpunkt der Lebenszufriedenheit

Im mittleren Alter, so ab Mitte 40, kommt einiges zusammen. Die Belastungen von Job und Familie zeigen sich in hohen Burnout- und Scheidungszahlen. In der U-förmigen Kurve der Lebenszufriedenheit ist – unabhängig vom Geschlecht – der Tiefpunkt erreicht. «Viele haben in der Lebensmitte das Gefühl, gelebt zu werden, statt zu leben», sagt die Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello (71).

Die Betroffenen sind der Rollen überdrüssig, die sie jahrelang gespielt haben. «Man ist nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Eine Neudefinition von sich selbst zwingt sich in dieser Phase auf.» Gerade für Eltern eröffnet das absehbare Ende der Familienphase Raum für existenzielle Fragen.

Pasqualina Perrig-Chiello war bis 2017 Professorin an der Universität Bern mit Schwerpunkt Entwicklungspsychologie der Lebensspanne.
Foto: Thomas Andenmatten

Die Wissenschaftlerin weist darauf hin, dass das mittlere Alter im Vergleich zu Kindheit und Jugend oder dem Alter in der Forschung Entwicklungsland ist. Noch ist wenig untersucht, was die Menschen wirklich bewegt und was das mittlere Alter mit ihnen macht. «Man nahm bislang an, das laufe dann schon.»

In der Schweiz bietet dieser Lebensabschnitt derzeit Stoff für einen heiteren Abend: Seit ein paar Monaten widmen sich die beiden SRF-Aushängeschilder Mona Vetsch und Tom Gisler mit ihrem Bühnenprogramm «Im mittleren Alter» selbstironisch und schambefreit den grossen Fragen. Die Vorstellungen sind ausverkauft; das Publikum – ebenfalls im mittleren Alter – lacht das Belastende dieser Lebensphase dankbar weg.

Eine krisenanfällige Zeit im Leben

Die Psychologie vermeidet den Begriff Midlife-Crisis. «In Bezug auf das mittlere Alter reden wir von einer krisenanfälligen Zeit», sagt Perrig-Chiello. Für die emeritierte Professorin ist dieser Lebensabschnitt sowohl für Frauen als auch für Männer eine Zeit der Veränderung. Weil Männer weniger darüber reden, was sie innerlich beschäftigt, komme es bei ihnen eher zum Knall. Zum Bruch von heute auf morgen. Frauen holen sich eher Hilfe als Männer, gleisen Veränderungen schrittweise auf. Doch in dieser Phase des Wandels kommt noch ein weiterer Akteur hinzu: der Körper mit seinen hormonellen Veränderungen.

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«Ich bringe die körperlichen Veränderungen mit der Trennung in Zusammenhang.»
Katrin
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Katrin vermutet rückblickend, dass abstürzende Hormonlevels einen stärkeren Einfluss auf sie und ihr Handeln hatten, als sie damals erkennen konnte. «Ich hatte einen Nebel im Kopf, konnte nicht klar denken, mich schlecht konzentrieren», beschreibt sie. Die körperlichen Veränderungen hätten alles auf den Kopf gestellt. «Ich bringe das mit der Trennung in Zusammenhang.»

Über die Rolle der Hormone habe sie zu wenig gewusst. Eine Unwissenheit, die verhängnisvoll sein kann. «Mein Ex-Mann und ich hätten einen anderen Umgang miteinander finden können», glaubt Katrin heute. «Es wäre möglich gewesen, einen anderen Weg als den der Trennung zu gehen, wenn wir die ganze Sache sorgfältiger angegangen wären.»

Hormonelle Veränderungen können psychisch zusetzen

Den Hormonen die Schuld zuzuschieben, greift zu kurz. Doch dürfe ihre Wirkung auch nicht unterschätzt werden, sagt Hormonspezialistin Regine Laser (63). Wenn eine Frau sich wohlfühle mit sich selbst in ihrem Leben, komme sie mit den hormonellen Veränderungen besser klar, als wenn diese mit schwierigen lebensgeschichtlichen Veränderungen zusammenfallen. «Dann kann es sein, dass durch die hormonellen Veränderungen eine psychische Situation entsteht, die dazu führt, dass das nicht so gut abgefedert werden kann.» Mit anderen Worten: Die psychische Stabilität kann leiden, wenn ein Hormondefizit besteht.

Regine Laser ist Gynäkologin und Hormonspezialistin. Sie sieht Aufklärungsbedarf bei Frauen und Männern.
Foto: zVg

Eine abstürzende Hormonkonzentration geht einher mit einem sinkenden Selbstwertgefühl. «Frauen mit einem empathischen, liebevollen Partner kommen da gut durch. Ist dies nicht gegeben, stellen Frauen oft die Partnerschaft infrage», sagt Laser.

Die Gynäkologin sieht Aufklärungsbedarf: «Es wäre wichtig, dass Frauen – und ihre Partner – wissen, was mit ihnen passiert.» So könnten Frauen besser einordnen, warum sie so erschöpft sind und warum sie mit Situationen nicht mehr so gut umgehen können wie früher. «Frauen zweifeln immer zuerst an sich selbst. Sie kommen gar nicht darauf, dass es an den Hormonen liegen könnte.»

Regine Laser vergleicht es mit einer Tour auf einem Velo, dessen Reifen kontinuierlich Luft verlieren. «Man passt sich an, tritt immer mehr in die Pedale, aber es wird immer anstrengender.» In den Wechseljahren fährt das Velo sinnbildlich über Kopfsteinpflaster. «Dann ist es besser, die Reifen sind aufgepumpt.» Die Ärztin hat vor einem Jahr ihre Praxis in Zürich abgegeben und berät seither online zu Wechseljahr- oder anderen Hormonproblemen und zu einer möglichen Hormonbehandlung.

Kurz zusammengefasst: Das mittlere Lebensalter ist anfällig für Krisen. Hormonelle Veränderungen und damit einhergehende psychische Tiefs können diese Krisen noch dunkler erscheinen lassen. Doch was hat das mit dem Bedürfnis nach Raum für sich zu tun?

Schon die britische Schriftstellerin Virginia Woolf hielt 1929 in ihrem wegweisenden Essay «A Room of One's Own» fest, dass Frauen materielle Sicherheit und ein eigenes Zimmer brauchen, um grosse Literatur hervorbringen zu können. Der eigene Raum ist Voraussetzung für die individuelle Entfaltung.

Eine Zimmerrochade im Haus ermöglichte Paula, ein Zimmer für sich zu beanspruchen.
Foto: Philippe Rossier

Ein Bedürfnis, das nach Jahren der Fremdbestimmung während der Familienphase immer stärker ins Bewusstsein drängt. Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello erklärt: «Frauen sind Care-Givers, für sie steht häufig das Wir im Vordergrund. Sie kümmern sich um soziale Beziehungen, um Familienangehörige. Doch auch sie kommen an den Punkt, an dem sie Raum für sich ganz allein brauchen.»

Sie empfindet es als nachvollziehbar, dass Frauen dies auch räumlich ausdrücken wollen: Das sind meine Quadratmeter für mich allein. «Das kann in diesen Jahren, aber auch später eine gesunde Art sein, sich abzugrenzen.» Ist die Liebe da, bedeute ein eigenes Schlafzimmer keine Bedrohung für die Beziehung. Man könne das so lesen: Ich hab dich gerne, aber ich brauche Zeit und Raum für mich.

Genau diese Gefühle beschreibt Leoni, die Mutter der Neunjährigen. «Ich habe den Wunsch nach Raum für mich. Ich spüre deutlich das Bedürfnis, mit mir allein zu sein. Mit mir und meinen Bedürfnissen.»

Auf dem Sofa am Fenster ist Leonis Lieblingsplatz in der Familienwohnung.
Foto: Philippe Rossier

Sie möchte Zeit zum Nachdenken haben, ohne dass jemand etwas von ihr will. Die Türe schliessen in der Gewissheit, dass niemand hereinkommt. Die Mitarbeiterin einer Kommunikationsabteilung bezeichnet sich als unabhängige Persönlichkeit. Ihr eigenes Zimmer in der Familienwohnung hat sie heute schon. Doch das Gefühl, dass jederzeit jemand hereinplatzen könnte, dass der Raum nicht allein ihr gehört, bleibt. Sie sehnt sich nach noch mehr Privatsphäre.

Kompromisse anstelle von Unabhängigkeit

Als Katrins jüngere Tochter so alt war wie das Kind von Leoni heute, mietete sie sich mit ähnlich denkenden Frauen eine kleine, abgeschiedene Wohnung auf dem Land. Dorthin zog sie sich regelmässig zurück, um abseits der Stadt und weg vom Alltag mit ihren Töchtern und ihrem Mann Kraft zu tanken. «Mit Kindern macht man viele Kompromisse, die man aber bewusst eingehen will. Der Abschied von dieser Zeit erfüllte mich mit Trauer», sagt Katrin. «Gleichzeitig hat mich die Frage beschäftigt, was wir sind nach dem Auszug der Kinder.»

Die Frage stellt sich umso mehr, wenn sich eine Frau weitgehend über ihre Rolle in der Familie definiert. Zehn Jahre lang war Paula nicht berufstätig, war ganz für ihre drei Kinder da. «Ich war froh: Durch die Kinder hatte ich eine klare Aufgabe. Aber ich konnte darin nicht aufgehen», sagt die Köchin und Lehrerin, die später in Teilzeit arbeitete. «Während Jahren habe ich versäumt, meine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und ihnen nachzugehen.»

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«Ich war getrieben und unruhig und musste Druck ablassen.»
Paula
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Der Drang nach Veränderung brach vor etwa vier Jahren durch. Sie legte den Hebel um, fokussierte auf sich. Sie probierte beruflich Neues aus. Pochte in der Familie mit den schon fast erwachsenen Kindern auf Mitarbeit. Machte viel Sport. «Ich war getrieben und unruhig und musste Druck ablassen», sagt sie dazu. In der Partnerschaft rumorte es; auch das eigene Zimmer sorgte für Unruhe. «Ich bin froh, dass wir die schwierigen Zeiten ausgehalten haben. Mein Mann und ich haben einen anderen und besseren Zugang zueinander gefunden», sagt Paula. «Wir haben uns beide weiterentwickelt und gehen sorgfältiger und liebevoller miteinander um.»

Wer ist man, wenn die Mutterrolle als definierende Klammer wegfällt? Katrin wünschte sich das Lebensgefühl zurück, das sie hatte, bevor sie jung Mutter wurde. «Davor war ich selbstbestimmt und unabhängig. Als Mutter war ich gefangen im Müssen.» Seit der Trennung lebt sie allein, und ihr neuer Partner und sie achten darauf, sich gegenseitig Freiraum zu lassen. Beruflich hat sie – neben einer Teilzeitstelle – Herzensprojekte lanciert und vorangetrieben. Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen: «Jetzt fühlt es sich für mich an wie damals.»

Als Mutter in einer stereotypen Rolle

Im Gegensatz zu früheren Generationen wachsen Frauen heute mit dem Versprechen auf, dass sie sein und tun können, was sie wollen. Dass sie ihr Leben gestalten können, wie sie es wollen. Dennoch finden sich die meisten Frauen, die Mutter werden, für einige Jahre – mehr oder weniger freiwillig – in einer stereotypen Rolle wieder. Wenn diese mit dem Heranwachsen der Kinder an Bedeutung verliert, lockt wieder das Versprechen aus der Jugend.

Der gesellschaftliche Wertewandel kommt diesen Frauengenerationen entgegen. «Die Möglichkeit der individuellen Lebensgestaltung ist akzeptiert, es gibt eine Diversifizierung der Lebensformen», sagt die Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello. «Man wird dafür nicht geächtet oder marginalisiert.»

Sie weist darauf hin, dass es in einer Partnerschaft stets die Co-Evolution gebe, also die gemeinsame Entwicklung, und die Individuation, die persönliche Entwicklung. «Nicht immer entwickeln wir uns als Paar schön parallel. Aber wenn die Beziehung einen gemeinsamen Nenner hat, wenn Vertrauen und Geduld vorhanden sind, hält sie das aus.» Die besten Karten in dieser Lebensphase des Wandels hätten Menschen, die offen sind für Neues, sagt sie.

Persönliche Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess. Manchmal führt der Weg zu sich selbst über Kopfsteinpflaster.

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