Verschwörungsglaube in der Schweizer Psychiatrie
Ein Psychiater im Strudel einer Satanisten-Verschwörung

In der Psychiatrie machen krude Thesen zu ferngesteuerten Menschen und Missbrauch durch Satanistenzirkel die Runde. Ein angesehener Berner Psychiater hat das befeuert. Und, wie SonntagsBlick nun enthüllt: Er behandelte Patientinnen danach.
Publiziert: 19.11.2023 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 19.11.2023 um 11:13 Uhr
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Ein trüber Herbsttag im Berner Oberland. Wir sitzen in der Küche bei Marlies Meier (61). Sie blickt auf das Foto an der Wand, auf den lächelnden Dalai Lama, der Buddhismus gibt ihr Kraft. Meier hat eine Tochter, die ihr altes Leben abgestreift hat wie alte Kleider. Inklusive Meier, deren richtiger Name ein anderer ist. Ein Bruch. Und dieser geschieht an einem Apriltag 2022 am Telefon.

Auslöser sind die düsteren Fantastereien der Tochter: satanistische Messen. Diese glaubt, Gestalten in schwarzen Kutten hätten sich in dunklen Räumen versammelt und in einer Zeremonie Babys das Herz herausgerissen. Die Tochter habe zusehen müssen. Und mehr noch: Die Gestalten hätten sie vergewaltigt, ihr die Arme aufgeschnitten, Schrauben und Rasierklingen eingenäht. Das Grauen, das die Tochter herbeifantasiert, ist so massiv wie ihre Vorwürfe an die Mutter: Meier habe ihr Kind einmal furchtbar zugerichtet aufgefunden und liegen lassen. Meier wehrt sich am Telefon. «Das ist nie passiert», sagt sie uns. Sagt sie damals der Tochter in den Hörer, und: «Das bildest du dir ein.» Sie dringt nicht zu ihr durch. Nicht jetzt, nicht während der Jahre zuvor. Die Tochter bricht den Kontakt ab. Zur ganzen Familie. Die Mutter sagt: «Es fühlte sich an, als hätte man mir einen Faden aus dem Herz gezogen.»

Seither versucht sie, eine Antwort auf das Warum zu finden. Was sie sicher weiss: Die Gruselfantasien, die Entfremdung der Tochter von der ganzen Familie – all das geschah während der Therapie mit einem bekannten Psychiater. Marlies Meier sagt: «Er hat uns unser Kind genommen.»

Psychiatrien im Bann einer Verschwörungstheorie

Mutter Meier ist Opfer einer Verschwörungserzählung, die sich in der Schweiz festgesetzt hat. Satanistische Geheimzirkel, die bis in die Justiz und Polizei hinauf reichen, sollen im Untergrund Kinder missbrauchen. «Rituelle Gewalt» nennen das deren Anhänger, darunter Psychiater. Die SRF-Sendung «.rec» deckte das ganze Ausmass auf: Ärzte in den psychiatrischen Kliniken Münsingen BE, Meiringen BE und Littenheid TG waren davon überzeugt, fixierten mitunter vermeintliche Opfer ritueller Gewalt gegen deren Willen – zum Schutz vor den bösen kultischen Netzwerken. Die Behörden gaben Untersuchungen in Auftrag, entliessen Verantwortliche.

Der Journalist Robin Rehmann hat mit seinem SRF-«rec.»-Team alles aufgedeckt.
Foto: Screenshot SRF

In diesem Zusammenhang taucht nun in den Medien immer wieder ein Name auf: Jan Gysi (52). Ein Berner Psychiater. Lange eine Koryphäe auf dem Gebiet der Traumatherapie. Und während mindestens elf Jahren der Therapeut von Meiers Tochter. Sein Standing bröckelt. Im Untersuchungsbericht zum Psychiatriezentrum Münsingen schreibt der Experte Thomas Maier: Jan Gysi sei ein «wichtiger ‹Spin Doctor›», der hinter den kruden Überzeugungen der Ärzte dort stehe. Er habe eine Art «Schule gegründet» und verbreite seine Ideen «über Fortbildungen, Kurse, Bücher und Supervisionen». Jan Gysi bestreitet gegenüber SRF, Kopf und Vordenker dieser Sache zu sein. Fakt ist: Gysi war Supervisor in Münsingen und Meiringen, lernte dort Ärztinnen und Ärzte an. Eine von diesen distanzierte sich laut dem «Spiegel» im Sommer «vollumfänglich» von Gysi in einem Schreiben, das sie an Psychiatrien in der Schweiz und Deutschland schickte.

Er therapiert in Bern: Jan Gysi.
Foto: zvg

Der SonntagsBlick wollte jetzt wissen, was den diesen Mann antreibt. Und mehr noch: Was bedeutet seine Nähe zur «rituellen Gewalt» für jene, die er behandelt? Wir sprachen mit Betroffenen, mit ehemaligen Weggefährten. Die meisten geben nur anonym Auskunft, manche dürfen wir nicht einmal zitieren, alles aus Angst vor Jan Gysis Anwälten. Die Recherche umreisst ein Bild von einem Mann, der Gutes tun wollte und es zu weit trieb. Der Verdacht liegt nahe, dass er in seinem Eifer Patientinnen beeinflusst hat.

Die brisanten Schriften des Psychiaters

Bei Marlies Meiers Tochter fing es mit einer Diagnose an: dissoziative Identitätsstörung (DIS), umgangssprachlich multiple Persönlichkeitsstörung. In der Fachwelt umstritten. Die Tochter fantasierte gegenüber Meier, die satanistischen Kuttengestalten würden ihr SMS mit bestimmten Codes schicken. Wenn die Tochter diese lese, mache sie sich auf den Weg zu ihnen. Wie ferngesteuert. Ohne dass sie sich später daran erinnere. «Belege dafür gab es nie», sagt Meier. Doch die Tochter beharrte darauf: Sie sei «täterloyal».

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«Ich bin immer abhängiger von ihm geworden»
Patientin von Jan Gysi
»

Ein Begriff, den Gysi in seinen Schriften benutzte. Genauso wie die Möglichkeit der Codes. In seinem Buch «Diagnostik von Traumafolgestörungen» (2021) und in seinem Bericht «Organisierte sexualisierte Ausbeutung» (OSA) schrieb er zudem: Täter wüssten, wie sie durch extreme Gewalt die Persönlichkeit der Opfer in Anteile aufspalten (DIS), und diese dadurch total kontrollieren könnten. Die Technik nennt er «Mind Control» – Gedankenkontrolle. Zum Schutz dieser Opfer diskutiert er auch elektronische Fussfesseln, wie der «Beobachter» berichtete. Gysi schreibt auf Anfrage: Seine Ausführungen zu «Mind Control» bedaure er, er würde sie heute präziser formulieren und habe Konsequenzen gezogen. Der OSA-Bericht ist nicht mehr verfügbar, das Buch überarbeitet.

Angeblich sollen Menschen von Täterkreisen kontrolliert werden.
Foto: shutterstock

Die Brisanz seiner Schriften aber bleibt. Vor allem in Bezug auf Satanismus. Die Aufspaltung der Persönlichkeit ist laut Gysis Buch auch in diesem Kontext möglich. Konkreter wurde er im «Beobachter»: «Tatsächlich kommen in der Therapie vereinzelt Schilderungen mit Satan, Bockköpfen, Exorzismus und Blutritualen vor.» Dies deckt sich mit den angeblichen Erfahrungen einer über fünfzigjährigen Gysi-Patientin, die wir im Januar 2019 zu einem Gespräch trafen. Sie war damals seit sieben Jahren bei ihm in Behandlung, schwärmte von ihm. Jan Gysi streitet heute auf Anfrage ab, Patienten behandelt zu haben, bei denen Satanismus ein Thema war. Er sei gegenüber Satanismus-Konzepten schon immer kritisch gewesen. Der Geschichte der Patientin gingen wir damals nicht nach. Bis wir Laura Gerber kennenlernen.

Sie litt unter der Behandlung

Sie ist eine ehemalige Patientin von Jan Gysi aus der Deutschschweiz. Und heisst in Wirklichkeit anders, möchte anonym bleiben. Trotzdem spricht sie mit uns, sagt, weshalb: «Zum Schutz seiner Patienten.»

Bei Gerber begann alles mit einer Suche. Sie brauchte einen Therapeuten. Sie ist schwer traumatisiert. Hat ebenfalls eine DIS-Diagnose. Lange konnte ihr auf diesem Gebiet keine Fachperson helfen. Dann stiess sie auf Jan Gysi. Seine Bücher, sein Nimbus imponierten ihr. Sie glaubte: «Ich bin in den guten Händen vom Trauma-Spezialisten der Schweiz», sagt sie. «Das machte ihn vertrauenswürdig.»

Die Behandlung fing gut an, Gysi zeigte viel Verständnis für ihren Zustand. Sie sagt: «Ich fühlte mich durch die intensive Therapie bei ihm aufgehoben.» Das war neu für sie. Genauso wie sein Ansatz. Der Arzt erklärte ihr, sie habe Persönlichkeitsanteile, von denen sie nichts wisse. Diese müssten sie in der Therapie hervorholen, damit sie gesund werde. Um Laura Gerber als Person ging es fortan nicht mehr. Ihr Name fiel selten. Gysi sprach nur noch von und mit ihren sogenannten Anteilen. Er suchte sogar aktiv nach neuen. Jan Gysi sagt gegenüber uns, es sei nicht möglich, in der Therapie Persönlichkeitszustände zu erzeugen, die nicht schon vorhanden sind.

Plötzlich wusste der Therapeut angeblich mehr über Gerber als sie selbst. Erklärte ihr, ein Anteil von ihr habe Kontakt zu Tätern, treffe sich mit diesen. Ein Schock, sie erinnerte sich an nichts. «Ich zweifelte erst», sagt sie. Doch je mehr er dies in den Sitzungen vertieft habe, desto stärker habe sie es geglaubt. Sie bekam Angst, sagt sie. «Es ging mir psychisch immer schlechter.»

Wie die Tochter von Meier zog sich auch Gerber von Familie, Freunden und Partner zurück. Sah in ihnen potenzielle Täter, wie sie sagt. Am Ende war sie isoliert. Jan Gysi wurde umso wichtiger. Sie sagt: «Ich bin immer abhängiger von ihm geworden.»

Jan Gysi sagte einmal dem «Beobachter», er verstehe «Mind Control» als Versuch, ein Opfer in eine extreme Abhängigkeit und emotionale Isolation zu bringen und mit Manipulation zu arbeiten. Laura Gerbers Erfahrungen zeigen: Gysi kann diesbezüglich selbst zu dem werden, wovor er in seinen Publikationen warnt.

Die Auswirkungen seiner Methoden belasten Gerber bis heute. Die Zahl ihrer Persönlichkeitsanteile hat sich durch die Therapie vermehrt. Trotzdem traut sie Jan Gysi keinen bösen Willen zu. Sie sagt: «Er wollte mir helfen, doch er hat sich vermutlich selbst in der Sache verloren.»

Es läuft eine Untersuchung

Mit dieser Einschätzung steht sie nicht allein. Das zeigen Gespräche mit Ärzten, die mit ihm zusammengearbeitet haben. Sie beschreiben ihn als jovial, charismatisch, und innerhalb seines Teams beliebt. Doch eckte Gysi demnach auch bei seinen Kollegen an. Schon ab den Nullerjahren. Mit seinem starken Fokus auf eine Traumatisierung als Auslöser einer psychischen Störung. Mit der Haltung: Bearbeitet man diese, kann man die Patienten heilen. Auf Traumafolgestörungen ist er heute spezialisiert. Es heisst, Gysi habe schon früher retten wollen.

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Und das über die Zeit im grossen Stil. Jan Gysi ist gut vernetzt. Hierzulande schulte er Therapeuten am Psychiatrie-Weiterbildungsinstitut WeBe+ im Kanton Bern oder an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Und er knüpfte Kontakte ins Ausland: In diesem Jahr leitete er für die länderübergreifende Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) zwei Symposien zum Thema DIS und «Täterloyalität», nächstes Jahr gibt er im Zentrum für Psychotraumatologie Hamburg ein Seminar. Doch Gysi denkt grösser, über die Psychiatrie hinaus. Das zeigt die «Nationale Konferenz für Opferbelange», die er 2022 als OK-Präsident veranstaltete. Die Teilnehmenden: Psychiater, Juristen, Vertreter der Stadtpolizei Zürich und Luzern. Finanzielle Unterstützer: unter anderem die eingangs erwähnte Psychiatrie Clienia Littenheid.

Jan Gysi ist umtriebig. Und so überzeugt von seinen Ideen, dass er andere mitreissen kann, sagen Wegbegleiter, Laura Gerber und Marlies Meier. Mit bösen Folgen für Letztere. Doch das sieht Gysi anders. Als wir ihn um eine Stellungnahme bitten, dreht er den Spiess um. Schickt eine kurze Abhandlung zum Thema Falschbeschuldigungen «von Patient:innen über angebliche Fehler in Therapien». Mögliche Motivationen seien: falsche Erinnerungen und Rache, behauptet er. Den Vorwurf, Patientinnen manipuliert zu haben, weist er als «Unterstellung» zurück – «in aller Entschiedenheit». Gysi distanziert sich zudem von «allen Arten von Verschwörungsnarrativen», er wehre sich gegen ihren Einsatz im therapeutischen Kontext. Verschwörungsgruppierungen hätten ihn instrumentalisiert.

Der Fall beschäftigt nun die Behörden. Marlies Meier machte im Februar bei der Gesundheitsdirektion des Kantons Bern eine Aufsichtsanzeige. Diese schreibt auf Anfrage: Die Anzeige sei Bestandteil der bei ihr «laufenden Untersuchung» gegen Jan Gysi.

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