Bruno Dössekker (82) kam zweimal in diese Welt. Zum ersten Mal am 12. Februar 1941. Und dann wieder am 29. August 1995, als sein Buch «Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948» erscheint. Er beschreibt darin, wie er als zweijähriger Bub zusehen muss, wie Uniformierte seinen Vater vor einer Hauswand ermorden. Er kommt ins Vernichtungslager bei Lublin in Polen, die Ratten fressen ihn fast auf, die SS-Männer auch, bis sie ihn weiter verfrachten – nach Auschwitz. Er hat Glück. Er überlebt. Ein reiches Ehepaar vom Zürichberg adoptiert ihn.
Die ganze Welt ist schockiert ob diesem Schicksal. Dabei ist es gar nicht seins, das kommt später aus. Er hat es sich bloss geliehen. Bruno ist nicht jüdisch, er ist der uneheliche Sohn einer Bielerin. Doch er, so zeigt der Dokumentarfilm «W. – Was von der Lüge bleibt», krallt sich an seinen Erinnerungen fest.
Die Geschichte erinnert an eine andere, die heute in der Schweiz herumgeistert. Eine satanistische Verschwörungserzählung. Ein Zirkel aus mächtigen Männern soll Kinder durch satanistische Rituale abrichten. Särge, Männer in Kutten, Vergewaltigungen vor Menschen und Babys, die durch Dolche sterben – immer wieder tauchen vermeintliche Opfer auf, die das erlebt haben wollen. Auch die Autorin dieses Texts hat sich vor Jahren mit einer Frau getroffen, die glaubt, sich an solche Praktiken zu erinnern. Und die SRF-Sendung «rec.» hat aufgedeckt, dass Schweizer Kliniken Menschen aufgrund dieser Verschwörungserzählung therapiert haben.
Dössekker, die Satanisten-Geschichten – das klingt abstrus. Wie ist so etwas möglich? Wie entstehen solche falschen Erinnerungen?
Unser Hirn speichert wenig ab
Susanna Niehaus setzt sich mit dem Erinnern auseinander. Die Professorin an der Hochschule Luzern ist Gerichtsgutachterin, seit 25 Jahren schaut sie sich bei Sexualdelikten Menschen und ihre Erzählungen an. Sie weiss, was das menschliche Gedächtnis abspeichern kann. Sie sagt: «Unser Hirn ist wählerisch.»
Jede Sekunde prasseln Tausende Eindrücke und Informationen auf unser Hirn ein, nur einen Teil nehmen wir bewusst wahr. Und nur einen Bruchteil davon speichern wir langfristig als Erinnerung ab. Und das auch erst ab dem dritten Lebensjahr. Wir behalten, was für uns von grosser Bedeutung ist, überraschend oder aussergewöhnlich. Vor allem auch: starke Gefühle. Sie filtern, was dauerhaft im Erlebnisgedächtnis bleibt. Was wir am Montag zu Mittag hatten, wie die Person ausgesehen hat, die uns im Restaurant das Bier brachte – das gehört nicht dazu.
Wichtige Dinge bleiben: das erste Verliebtsein. Das erste Rendez-vous mit dem Ehemann oder der Ehefrau. Die Geburt des Kindes. Wo wir waren, als aus dem World Trade Center Rauchschwaden in den Himmel zogen. Das alles erinnern wir. Doch gibt es einen Haken.
Wir erinnern falsch
Susanna Niehaus sagt: «Das Gedächtnis ist anfällig für Fehler.» Im Lauf der Zeit fallen Dinge weg oder verzerren. Das ist ganz normal.
Niehaus erinnert sich an Wildschweine. Sie ist noch klein und mit ihren Eltern im Wald unterwegs, als die Tiere plötzlich angreifen. Sie flüchten sich auf einen Baumstumpf. Vor ein paar Jahren hat sich im Gespräch mit den Eltern herausgestellt: Ihr Bruder hat so was erlebt. Niehaus hat es damals noch gar nicht gegeben. Ihr ist klar, dass ihre Erinnerung falsch ist, doch, sagt sie: «Die Bilder von der Situation habe ich noch immer im Kopf.»
Wir alle tragen Scheinerinnerungen in uns. Wenn der Zehnjährige erzählt, einmal an Weihnachten habe der Tannenbaum gebrannt. Doch die Familie hat ihn damals nur davor gewarnt, nichts ist passiert. Oder wenn wir uns darüber unterhalten, wer beim Kennenlernen den ersten Kuss initiiert hat – wundern Sie sich nicht, wenn Sie es anders sehen als der Partner!
Unser Hirn überschreibt das innere Erinnerungsalbum mit allem, was es zu fassen kriegt: Bücher, die wir lesen, Filme, die wir schauen, wenn uns Menschen Dinge berichten oder Geschichten, die in der Familie kursieren. Das bringt uns in eine verzwickte Lage: Erinnerungen machen einen Menschen aus. Wenn das, woran ich mich erinnere, in der Summe das ist, was ich bin – dann kann ich mir selbst nicht trauen. Wer bin ich?
Sie löst einen Krieg der Erinnerungen aus
Das Thema birgt Zündstoff. Das hat die Frau am eigenen Leib erfahren, der wir dieses Wissen zu verdanken haben: Elizabeth Loftus. Die Erkenntnisse der US-amerikanischen Forscherin fliessen heute in die Behandlung von Gerichtsfällen rund um den Globus ein. Anders in ihren Anfängen, als sie 1994 das Buch «The Myth of Repressed Memory» herausbrachte: Sie bekam Morddrohungen, brauchte einen bewaffneten Personenschützer. Alles wegen eines Experiments mit Teenagern.
Detailreich schildert da der 14-jährige Chris Coan, wie er als Fünfjähriger in einer Einkaufspassage verloren gegangen ist und wie ein Mann mit Brille, blauem Flanellhemd und grauem Haarkranz ihn wieder zu seiner Mutter brachte. Er erinnert sich an die «schreckliche Angst», die er spürte.
Bloss: Chris hat seine Mutter nie verloren. Die Psychologin Loftus hat seinen älteren Bruder Jim gebeten, Chris drei wahre Geschichten aus dessen Kindheit zu erzählen und eine erfundene – jene, die Chris dann wiedergegeben hat. Die Psychologin hat ihm und vielen anderen eine komplett neue Erinnerung eingepflanzt.
Loftus hat gezeigt: Unser Gedächtnis lässt sich manipulieren. Vertrauenspersonen und Autoritäten können das ganz einfach mit Erzählungen tun. Oder durch suggestive Fragen. Je mehr Zeit nach dem Erlebten vergangen ist, desto leichter die Manipulation. Ihre Ergebnisse sind damals progressiv. Die Meinung herrscht vor: Das Gehirn arbeite wie ein Aufnahmegerät, gebe alles Erlebte akkurat als Erinnerung wieder.
Was folgt, ist ein Psychologie-Krieg in den USA, bekannt als «Memory Wars», Erinnerungskriege.
Viele Psychologen therapieren damals nach Freud und seinem Konzept der Verdrängung: Der Mensch verdränge bedrohliche Erlebnisse und Traumata aus dem Bewusstsein, sie seien für diesen alleine nicht mehr abrufbar, könnten aber in der Therapie hervorgeholt werden. Alles ist möglich. Jeder und jede kann Opfer sein. Und ist es plötzlich: Menschen mit haarsträubenden Geschichten schwemmen die Talkshows der Achtziger- und Neunzigerjahre, Bestseller erscheinen mit Titeln wie «Secret Survivors» oder «Repressed Memories», mit Selbsttests im Fall eines verdrängten Missbrauchs in der Kindheit: Haben Sie Mühe, Ihrer Intuition zu vertrauen? Wird Ihnen bei bestimmten Lebensmitteln schlecht? Lehnen Sie Ihre Zähne ab?
Diesen Therapeuten nimmt Loftus die Grundlage. Sie wehren sich öffentlich. Und verlieren.
Mythos Verdrängung
Heute weiss man, sagt Gutachterin Susanna Niehaus: «Traumatisches wird nicht automatisch verdrängt oder abgespalten, das ist widerlegt.» Sicher, man vergisst Dinge, mag an manches auch nicht denken. Doch Niehaus weiss aus ihrem Berufsalltag: Schwere Gewalt, sexuelle Gewalt – daran erinnern sich Menschen in der Regel. So stark, dass es sie plagt, die Bilder, Geräusche, Gerüche bekommen sie nicht mehr aus dem Kopf. Das macht laut Niehaus auch Sinn: «Das Hirn prägt sich die Situation ein, weil es überlebensrelevant ist, dass man aus bedrohlichen Situationen lernt.»
Nun, wie war es wohl bei Bruno Dössekker? Wie ist er auf seine Geschichte gekommen? Am Anfang steht ein Mann, adoptiert, davor von Heim zu Heim geschoben, der verzweifelt wissen will, wo er herkommt. Er interessiert sich fürs Judentum, wird dort fündig, reist nach Israel, Lettland und Polen, in Riga kommen Erinnerungsfragmente an ein Haus seiner Kindheit hoch. Für ihn ist klar: Hier komme ich her. Und er spinnt die Geschichte weiter. Zwei Therapeuten, einer davon jüdisch, helfen ihm dabei. Mit ihnen schreibt er das Buch. Als rauskommt, dass die Biografie falsch ist, bricht viel Häme über ihn herein. Heute lebt er zurückgezogen in Amlikon TG.
Vielleicht hätte sich Bruno Dössekker viel ersparen können, wenn er früher misstrauisch gewesen wäre. Vielleicht sollten wir das alle sein. Vielleicht müssen wir nicht einmal so weit gehen. Wir können es auch gelassen nehmen. Wie Max Frisch, der es schon wusste: «Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.»