Altersforscher François Höpflinger
«Wenn wir länger arbeiten sollen, müssen wir anders arbeiten»

Der Soziologe François Höpflinger (75) gilt als der Altersexperte der Schweiz. Im Gespräch erklärt er, wieso wir die AHV anders einsetzen müssen – und wieso es keine gute Idee ist, wenn die Eltern bei den Kindern einziehen.
Publiziert: 04.02.2024 um 12:30 Uhr
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Alexandra FitzCo-Ressortleiterin Gesellschaft
Er ist der bekannteste Altersforscher der Schweiz: François Höpflinger.
Foto: Linda Käsbohrer

«Entschuldigung, wir haben ein Puff», sagt Christina, die Frau von François Höpflinger. Sie seien am Ausmisten. Sie meint die Bücher, die sich auf dem Parkettboden stapeln. In der Wohnung in Horgen ZH scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Holzmöbel, das Täfer voller Gemälde. Vor allem Porträts. Einige zeigen die Schwiegermutter von Höpflinger. Sie ist vor 26 Jahren verstorben. Und dann erklärt sich auch das mit der Einrichtung: Sie ist noch von ihr. «Wir haben nichts geändert. Wir sind ein bisschen faul», sagt Christina und lächelt ihren Mann an. Der Esstisch ist längst zu Höpflingers Arbeitsstube geworden. 

Herr Höpflinger, ab wann ist man eigentlich alt?
François Höpflinger: Offiziell ab 65. Die Wahrnehmung der Leute selbst ist 80 plus. Das subjektive Alter liegt deutlich tiefer. Mit 35 fangen wir an, uns jünger einzuschätzen. Das macht Sinn.

Warum?
Das Alter im klassischen Sinn ist ein körperlicher Prozess. Der Körper wird alt. Der Geist, die Seele, die Psyche werden nicht alt. Wir haben mehr «Teenager» im Rentenalter. 

Wie alt fühlen Sie sich?
Jünger, als ich bin. Wir haben keine soziale Alterung der Gesellschaft, nur eine demografische. 

Bis 2025 wird jede fünfte Person über 65 Jahre sein. Es gibt immer mehr 100-Jährige. Was sehen Sie als grösste Herausforderung?
Wir müssen die gesunden und motivierten älteren Personen in die gesellschaftliche Verantwortung einbeziehen. Leute, die aktiv sind, altern besser. Wenn sie selbstverantwortlich schauen, dass sie gesund altern, entlasten sie die nachkommende Generation. Provokativ gesagt: Es ist besser, wenn die Mutter erst pflegebedürftig wird, wenn die Tochter schon im Rentenalter ist. 

Sie sind 75 – und arbeiten noch immer.
Ich habe schon etwas reduziert. Viele Engagements sind unbezahlt, das kann ich mir jetzt eher leisten. 

Die Schweiz stimmt bald über eine Initiative ab, die das Rentenalter erhöhen möchte. Wie sehen Sie das?
Das ist unumgänglich. Unter Experten gibt es einen hohen Konsens, dass das notwendig ist. Die Mehrheit der Bevölkerung ist noch dagegen. Klar ist: Wenn wir länger arbeiten sollen, müssen wir anders arbeiten.

Foto: Linda Käsbohrer

Wie?
Wir müssen schauen, dass wir weniger Stress haben. Gesundheitsförderung ist wichtig, damit die Leute länger fit sind und länger motiviert bleiben. Wir müssen gesünder arbeiten, aber länger. Wir brauchen andere Karrierestrukturen.

Und wie sehen die aus?
Bis jetzt funktioniert das System nacheinander: Ausbildung, Erwerbstätigkeit, Pension. Der Trend geht Richtung lebenslanges Lernen. Man hat herausgefunden, dass man damit das Risiko von Demenz verringert und auch mit 70 noch neue Hirnzellen bilden kann. Und wir müssen Ruhephasen einführen.

Was sind Ruhephasen?
Wenn Leute fünf, sechs Jahre gearbeitet haben, bekommen sie sechs Monate bezahlten Urlaub. Sabbaticals. 

Wer würde diese Auszeit zahlen?
Man könnte sich überlegen, dass der Staat das übernimmt. Wenn man 50 Jahre alt ist, könnte man ein halbes Jahr AHV beziehen aus der AHV-Kasse und sich dann verpflichten, ein wenig länger zu arbeiten. Vielleicht auch Teilzeit. 

Dass ältere Leute länger arbeiten, ist nur wegen der Finanzierung der Altersvorsorge wichtig?
Nein. Auch für den Erhalt der Produktivität. Ältere Leute bringen Erfahrung mit. Wir haben festgestellt: Wenn pensionierte Pflegefachfrauen in einem Team mithelfen, ist die Burnout-Quote bei den Jungen tiefer. Weil die Älteren wissen, wie man mit schwierigen Situationen umgeht. 

François Höpflinger im Gespräch mit Blick-Journalistin Alexandra Fitz.
Foto: Linda Käsbohrer

Die Bevölkerung tut sich schwer mit dem Gedanken, länger zu arbeiten.
Wir haben im Moment ein sehr hohes Stressniveau bei der Arbeit. Am meisten Stress haben die Jungen, nicht die Älteren. Man kann nicht 40 Jahre stressreich arbeiten. Wir brauchen eine Entstressung. 

Wir haben nicht nur ein hohes Stressniveau, sondern auch eine hohe Arbeitszeit.
Ja. Und deshalb arbeiten viele Teilzeit – insbesondere Frauen mit Kindern. Ein Beispiel aus der Pflegebranche: Wenn es gelingt, dass Frauen durch gute Arbeitsbedingungen (Kita im Betrieb, weniger Stress) nicht 40, sondern 60 Prozent arbeiten, hat man praktisch ein Drittel des Pflegenotstands gelöst. 

Sie forschen auch zum Thema Wohnen im Alter. Kaum jemand kümmert sich früh genug darum. Es ist, als ob der Mensch vom Alter überrascht wird.
Ja, das ist ein Verdrängungsprozess. Das ist das Problem: Die Leute fühlen sich zwar jünger, aber das Alter verdrängen sie. 

Wann muss man sich darum kümmern, wo man im Alter wohnt?
Man muss zu einem Zeitpunkt planen, wo es noch nicht notwendig ist. 

Aber dann will man es nicht.
Evolutionsbiologen sagen: Der Mensch ist kein guter Planer, er ist ein guter Anpasser.

Höpflinger bei sich zu Hause in Horgen.
Foto: Linda Käsbohrer

Wie gehen die erwachsenen Kinder in der Schweiz mit ihren betagten Eltern um? Kaum jemand holt sich hier den verwitweten Elternteil als Mitbewohner in die eigene Wohnung.
Ja, das ist die Ausnahme. Aber nicht, weil das die Kinder nicht wollen, sondern zumeist die Eltern. 

Ah ja? Warum?
Weil die Eltern nicht abhängig sein wollen von den Kindern. Das Beste ist Intimität auf Abstand. Wir haben gute Beziehungen, weil wir nicht voneinander abhängig sind. 

Wäre das Zusammenleben denn eine gute Lösung?
Nein. Es würde mehr Konflikte geben. Der gleiche Haushalt ist heikel. Wenn man die Mutter oder den Vater im gleichen Haushalt aufnimmt, funktioniert das nur, wenn die Beziehung ein Leben lang gut war. 

Wohnte man früher nicht generationenübergreifend zusammen?
Das Zusammenleben von Jung und Alt im gleichen Haushalt war in Mittel- und Nordeuropa schon früher die Ausnahme. Ende des 17. Jahrhunderts hat man in grossen Bauernhöfen das Stöckli eingerichtet, in denen der Vater oder die Mutter lebten. Die Schweiz hat historisch ein anderes Familienmodell als die meisten anderen Länder. Die Partnerbeziehung steht im Zentrum, nicht die Verwandtschaft. Bei uns sind Clans ohne grosse Bedeutung.

Wie gelingt es der jüngeren Generation, Hilfe anzubieten, ohne dass sich die alten Eltern bevormundet fühlen?
Das ist schwierig. Das Problem haben wir noch nicht gelöst. Das merkten wir während der Covid-Phase. Junge halfen den Älteren einzukaufen, viele ältere Personen wollten die Hilfe nicht. Es gab mehr junge Leute, die helfen wollten. Da sind wir wieder bei der Verdrängung des Alters. Es geht manchmal besser über die Enkelkinder.

Wenn wir länger arbeiten müssen, müssen wir anders arbeiten, sagt Höpflinger.
Foto: Linda Käsbohrer

Warum?
Das Verhältnis zwischen Mutter-Tochter ist oft enger und ambivalenter. Enkelkinder haben auch weniger Mühe, wenn Grosseltern dement werden als die Tochter oder der Sohn, weil das Alter der Eltern der Schatten der eigenen Zukunft ist.

Weil es einen an seine eigene Endlichkeit erinnert?
Ja, oder weil man nicht so werden will. Das Alter der Eltern kann Ängste auslösen.

Wie sollen die Älteren denn betreut werden?
Durch Fachpersonen oder in einer Alters- und Pflegeeinrichtung. Gerade bei demenzkranken Person sind Angehörige oft überfordert. Die Heimqualität in der Schweiz ist insgesamt hoch. Viele Leute wehren sich gegen einen Pflegeheimeintritt, aber wenn sie dann dort sind, sehen sie, es ist besser.

Der Altersforscher

François Höpflinger (75) ist emeritierter Soziologieprofessor an der Universität Zürich und forscht seit Jahrzehnten zu den Themen Alter und Generationen. Höpflinger ist Mitglied der akademischen Leitung des Zentrums für Gerontologie. Seine aktuellen Forschungsthemen: Strukturwandel des Alters, Wohnen im Alter und Arbeit in späteren Erwerbsjahren. Er hält Vorträge und berät Regierungen und Stiftungen. Höpflinger lebt mit seiner Frau Christina in Horgen ZH. Die beiden haben sich 1968 an einer Demo in Zürich kennengelernt. Das Paar hat zwei Kinder und vier Enkelkinder.

François Höpflinger (75) ist emeritierter Soziologieprofessor an der Universität Zürich und forscht seit Jahrzehnten zu den Themen Alter und Generationen. Höpflinger ist Mitglied der akademischen Leitung des Zentrums für Gerontologie. Seine aktuellen Forschungsthemen: Strukturwandel des Alters, Wohnen im Alter und Arbeit in späteren Erwerbsjahren. Er hält Vorträge und berät Regierungen und Stiftungen. Höpflinger lebt mit seiner Frau Christina in Horgen ZH. Die beiden haben sich 1968 an einer Demo in Zürich kennengelernt. Das Paar hat zwei Kinder und vier Enkelkinder.

Sie sagen, Mehrgenerationenhäuser seien wieder im Kommen statt Alters-WGs.
Das stimmt. Bei den Babyboomern gewann das gemeinschaftliche Wohnen nicht so stark an Bedeutung, wie wir das vermutet haben. Sie bevorzugen einen eigenen Haushalt. 

Sie sagen auch, die Beziehung zwischen Enkelkindern und Grosseltern sei noch nie so gut wie heute. Warum?
Es gibt mehr Grosseltern, die körperlich und psychisch gesund sind. Sie können also mit den Grosskindern Ausflüge machen. Sie benutzen die Enkel auch als sozialen Jungbrunnen.

In Familien helfen die Grosseltern bei der Kinderbetreuung. Oft wäre es anders gar nicht möglich.
Ja, es gibt wenig Grosseltern, die keinen Kontakt zu den Enkeln haben. Weniger als fünf Prozent. Sie betreuen sie, weil sie eine gute Beziehung haben möchten. Wenn sie die Enkel nicht betreuen, ist dies meist, weil sie nicht gesund sind oder weiter weg wohnen – und selten weil sie nicht wollen. 

François Höpflinger im Gespräch mit Blick-Journalistin Alexandra Fitz.
Foto: Linda Käsbohrer

Der Wert der Grosselternbetreuung wird auf 8 Milliarden Franken pro Jahr beziffert. Wie sehen Sie das?
Es ist gar nicht so schlecht. Ausserdem haben wir ja heute weniger Kinder, das entlastet. Aber es wäre schon besser, man würde Kitas ausbauen. In Schweden führte der Ausbau von Kitas aber nicht dazu, dass die Grosseltern sich weniger engagieren. Das Problem ist, wenn Grosseltern müssen – und zwar zu viel. Ein bis zwei Tage in der Woche, das ist die Schmerzgrenze. Man darf sich auch nicht zu stark einmischen. Das mussten wir auch lernen. Engagieren, aber nicht in die Erziehung einmischen. 

Haben Sie Ihre vier Enkel auch betreut?
Meine Frau vor allem. Die Enkel kamen drei Tage zu uns. 

Das ist aber schon über der Schmerzgrenze, die Sie erwähnten.
Ja, aber unsere Tochter arbeitet in München. Als sie in den Kindergarten und in die Schule kamen, gingen wir zu ihnen heim. So haben wir eine gute Beziehung zu den Enkelkindern. Die hätten wir sonst nicht gehabt. 

Haben Sie und Ihre Frau darüber gesprochen, wie und wo sie im Alter wohnen?
Wir wollten in die Nähe meiner Tochter ziehen. Sie fand aber, das sei ihr zu viel Nähe. 

Wollen Sie daheim wohnen bleiben?
Horgen hat gute Alterseinrichtungen. Aber man kann auch in der eigenen Wohnung noch recht lange bleiben. Aber ich gebe es zu: Vielleicht haben wir das Thema auch etwas verdrängt.

Sie als Altersforscher!
Nur weil ich viel über das Alter weiss, heisst das nicht, dass ich selber geschickter alt werde. Fachwissen hat für das eigene Leben eigentlich einen überraschend kleinen Einfluss.

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