Ein Neuwagen hatte in der Schweiz 2018 durchschnittlich 179 PS. Diese Zahl verblasst vor der Systemleistung des ersten Plug-in-Hybrid-Ferrari: 1000 PS! Schier unvorstellbar – und auch für mich als Autoredaktor nicht alltäglich.
Es mildert meine Nervosität, dass ich den SF90 Stradale auf der Rennstrecke Fiorano (I) teste und nicht auf öffentlichen Strassen. Dabei umspielt aber auch ein Schmunzeln meine Lippen. Hier kann ich das volle Leistungspotential des Hybriden ausschöpfen – oder es zumindest versuchen. Auf normalen Strassen wäre das nie möglich.
Der Pizza-Antrieb
Herzstück ist ein V8-Turbobenziner. Mit seinen 780 PS (573 kW) ist er das stärkste V8-Triebwerk in Ferraris Markengeschichte und treibt die Hinterräder an. Er wird von drei Elektromotoren mit gesamt 161 kW (220 PS) unterstützt. Zwei E-Motoren treiben die Vorderachse an und übernehmen den reinen E-Betrieb sowie den Rückwärtsgang. So wird das Getriebe um drei Kilo leichter.
Der dritte E-Motor liegt zwischen V8 und Getriebe. «Wir nennen ihn intern Pizza, weil er flach und rund ist», sagt Hybridingenieur Enrico Venturi. «So behalten wir einen kurzen Radstand, was in Kurven Vorteile bringt.» Der SF90 ist 4,71 Meter lang und hat 2,65 Meter Radstand. Die klassischen E-Motoren sind eher länglich, was nicht ins Konzept passte. Deshalb hat der Zulieferer die sieben Zentimeter dicke «Pizza» quasi extra für die Italiener angerichtet.
Ich bin hungrig – darauf, diesen E-Motor und seine drei Mitstreiter in Ferraris Hybrid-Supersportler zu kosten. Also steige ich ein und schnalle mich in den Sportsitzen fest. Ein Vier-Punkte-Gurte fixiert mich im Sitz. Vor mir komplett digitale Instrumente und ein Lenkrad mit Touch-Knöpfen samt Startknopf. Vor dem Start kann ich über die vier Fahrmodi (eDrive, Hybrid, Performance und Qualify) entscheiden, ob der V8-Motor mit anspringt oder nicht. Für die Rennstrecke wähle ich Performance, so erwacht der V8 fauchend hinter mir.
So fahren sich 1000 PS
Vorsichtig rolle ich aus der Boxengasse. Unfassbar, wie fein sich das Gas dosieren lässt, wie sanft sich der Ferrari bei langsamen Tempi bewegt. Fast, als würde ich einen 150-PS-Golf und keinen 1000-PS-Ferrari fahren. Mein Respekt vor öffentlichen Strassen scheint unbegründet. Doch sobald ich das Gaspedal richtig durchtrete, katapultiert mich der SF90 nach vorne wie ein Düsenjäger. In 2,5 Sekunden sprintet der Allradler auf Tempo 100, knackt die 200er-Marke nach 6,7 Sekunden, ist 340 km/h schnell. Die erreiche ich in Fiorano nicht, aber brauchts auch nicht. Die Beschleunigung ist beeindruckend genug. Wahnsinn!
Angst vor Kurven? Unbegründet. Die Bremsen packen kräftig zu, einlenken und wieder Gas geben. Der SF90 klebt regelrecht auf der Strasse. Der Grund dafür sind die aktive Aerodynamik und die Steuerelektronik für die Fahrzeugdynamik. Sie orchestriert die Harmonie der vier Motoren und regelt das Drehmoment an jedem Rad einzeln. «Sie ist nicht als Rettungsleine bei einem Fehler gedacht», erklärt der Chef Fahrzeugdynamik, Stefano Varisco. «Die Fahrer sollen die Systeme nutzen, um die Performance des SF90 voll auskosten zu können.»
Komplexe Technik, einfach bedient
Ich wage das nicht, wie die Telemetrie verrät. Ich beschleunige zu zögerlich aus der Kurve. Als hätte der SF90 keine solche Systeme, kontrolliere ich nach alter Schule die Leistung via Gasfuss, statt das Pedal einfach voll durchzutreten. «Sie vertrauen meinem System nicht», sagt Varisco schmunzelnd. Leichter gesagt als getan, wenn ich fast eine halbe Million Franken bewege und vermutlich jede Felge einen Monatslohn wert wäre – mindestens. Aber beim zweiten Stint versuche ich es. Vollgas aus der Kurve – und tatsächlich, das Heck bleibt völlig stabil, der SF90 klebt immer noch auf der Strasse. Die Elektronik dosiert und verteilt die 1000 PS und 800 Nm genau richtig an alle vier Räder. Wow!
Aber die Physik überlisten können auch Varisco und seine Elektronik nicht. Wer zu spät bremst, kriegt die Kurve nicht. Wer zu früh am Gas ist, kann von den Fliehkräften auch mal über die Curbs in die Wiese gezogen werden. Aber alles in allem ist der Ferrari SF90 Stradale tatsächlich ein komplexes Technik-Meisterwerk, das durch seine einfache Handhabung zu begeistern weiss.
Wir könnten jetzt die geringe elektrische Reichweite von 25 Kilometern monieren, aber die E-Motoren sollen in erster Linie Performance verbessern und erst im zweiten Schritt Sprit sparen. Selbst gegen den Einstiegspreis von 489'304 Franken lässt sich nicht viel sagen. Auch wenn der SF90 Stradale damit ein Traum bleibt, ist der Preis für 1000 PS fast schon ein Schnäppchen.