Wer an US-Autos denkt, dem kommen chromverzierte Strassenkreuzer mit blubbernden V8-Motoren in den Sinn. Die US-Autoindustrie rund um General Motors (GM), Ford und Chrysler gaben einst nicht nur in Amerika, sondern weltweit den Takt vor. «The Big Three» standen für Fortschritt, Macht und Wirtschaftswachstum.
Dass diese guten alten Zeiten vorbei sind, zeigt das Beispiel GM: 80 Jahre lang war GM mit Marken wie Buick, Cadillac oder Chevrolet und legendären Modellen wie Eldorado, Malibu oder Corvette der grösste Autobauer der Welt. Mit noch rund 4,4 Millionen produzierten Fahrzeugen kam die ehemalige Weltnummer 1 im letzten Jahr nur noch auf Platz 6 der global führenden Autobauer – der aktuelle Spitzenreiter Toyota hat 2021 mehr als doppelt so viele Autos wie GM gebaut: knapp über zehn Millionen. Fast noch schlimmer für die stolzen Amis: Nach 90 Jahren (!) als Nummer 1 wurde GM vergangenes Jahr auch auf dem Heimatmarkt von Toyota überholt.
Elektro-Trend verschlafen
Der Misserfolg kommt nicht von ungefähr: Zu lange hatte die alte Garde aus Detroit an fetten Verbrennern festgehalten und die ökologischen Zeichen der Zeit verkannt. Dabei hätten GM und Co. nur etwas früher nach Kalifornien schielen müssen, wo Tesla um den exzentrischen CEO Elon Musk (50) schon seit 2006 und dem ersten elektrischen Roadster dabei ist, die Autobranche zu revolutionieren. Selbst als der erste Stromer für die breitere Masse, die Edellimousine Model S, im Jahr 2013 auf den Weltmarkt rollte, verlachten die Autobauer – und das nicht nur Detroit – Tesla als kurzfristiges Phänomen, das sich früher oder später wieder im Rauch ihrer Verbrenner auflösen würde.
Tesla auf Rekordkurs
Eine grandiose Fehleinschätzung: Ende Oktober 2021 knackte Tesla an der Wall Street die magische Marke von einer Billion US-Dollar – unfassbare 1000 Milliarden Dollar! Noch nie war ein Autobauer wertvoller. Seit dem Rekordwert von über 1200 Dollar hat die Tesla-Aktie zwar bis heute wieder rund ein Drittel ihres Werts eingebüsst – Chipkrise und Ukraine-Krieg gehen auch an einem Top-Player nicht spurlos vorbei.
Doch schon streben die Kalifornier die nächste Bestmarke an: Nach einem erneuten Rekordquartal Anfang 2022 dürfte Tesla erstmals in der Firmengeschichte mehr als eine Million Autos pro Jahr produzieren – 2021 wurde die Marke mit rund 936'000 gebauten E-Autos noch knapp verfehlt. Und das, obwohl der bereits vor drei Jahren angekündigte futuristische Cybertruck noch immer auf sich warten lässt und wohl erst Anfang 2023 zu den ersten Kunden stromert.
Rivians Höhenflug
Und schon stromern im Windschatten von Tesla weitere Marken, die den etablierten Autogiganten bald gefährlich werden könnten. Ein heiss gehandelter Kandidat ist Rivian. Das US-Start-up aus einem Vorort Detroits sorgte im vergangenen Jahr für Aufsehen, als es zwischenzeitlich mit 130 Milliarden Dollar höher gehandelt wurde als GM, Ford oder auch VW. Und das, obwohl Rivian um CEO Robert Scaringe (39) 2021 lediglich die ersten 100 Exemplare des Debüt-Modells R1T an Lifestyle-bewusste Kunden auslieferte.
Doch die Nachfrage auf den bis zu 800 PS starken und auf Reichweiten von über 600 Kilometer ausgelegten Elektro-Pick-up ist enorm: Über 50'000 Vorbestellungen seien allein im letzten Jahr bei Rivian eingegangen, die Fabrik in Illinois ist auf eine Jahreskapazität von 150'000 Stromern ausgelegt. Befeuert hat den Höhenflug Onlinegigant Amazon, der sich mit einer eigenen Rivian-Elektroflotte von 100'000 Lieferwagen bis 2030 von Lieferdiensten unabhängig machen will.
Bitterer Absturz
Inzwischen ist der Überflieger wieder auf dem Boden angekommen. CEO Scaringe hatte am 1. März 2022 saftige Preiserhöhungen auf den Pick-up R1T und den kommenden SUV R1S angekündigt. Und zwar rückwirkend – gültig auch für alle weltweit bereits getätigten 70'000 Vorbestellungen. Begründung: höhere Rohstoffpreise, Probleme in den Lieferketten und Inflation. Es hagelte Beschwerden, Scaringe ruderte zurück. Neu gelten die Preiserhöhungen erst ab der Verkündung am 1. März. Doch der Schaden ist angerichtet: Heute steht die Aktie bei knapp 27 Dollar – nicht mal ein Sechstel des Rekordwerts von 172 Dollar im Herbst 2021. Wie schnell sich Rivian vom Rückschlag erholt? Abwarten.
Lucid verschiebt Grenzen
Neben Tesla und Rivian bringt sich aktuell ein dritter Newcomer in Position, der einst die neuen Big Three in Amerika vervollständigen könnte. Lucid Motors um Ex-Tesla-Ingenieur Peter Rawlinson hat Ende 2021 mit der Auslieferung des Lucid Air begonnen – eine bis zu 1100 PS starke Power-Limousine, die ab einem Preis von 199'000 Franken und Reichweiten von bis zu 900 Kilometern die Grenzen der E-Mobilität weiter nach oben verschiebt. Soeben hat Lucid den ersten europäischen Showroom in München (D) eröffnet, die Auslieferung der horrend teuren «Dream»-Edition des Air soll noch in diesem Jahr an die gut betuchte Kundschaft starten. Nach dem Luxusmodell sollen in schneller Folge weitere, vor allem günstigere E-Fahrzeuge folgen.
Bereits 2007 startete Lucid Motors – damals noch unter dem Namen Atieva – als Zulieferer für Elektroantriebe. Sieben Jahre später ging es los mit der Entwicklung des ersten eigenen Modells namens Air. Seit 2016 trägt die Firma den Namen Lucid Motors und residiert seit 2019 im kalifornischen Newark (USA). Gebaut wird der Air im Werk in Casa Grande (Arizona, USA, Bild), ein weiteres Werk entsteht in Saudi-Arabien. Im Endausbau sollen 300'000 Autos pro Jahr vom Band laufen.
Lucid Motors, wesentlich mitfinanziert vom saudi-arabischen Staatsfonds, hat ein sehr erfahrenes Führungsteam angeheuert: CEO Peter Rawlinson gilt als Vater des Tesla-Erfolgs, weil er als Entwicklungschef einst das Model S anschob. Der Hardware-Technikchef Eric Bach kam ebenfalls von Tesla. Die Finanzchefin Sherry House ist von General Motors zu Lucid gestossen, Designer Derek Jenkins stylte vorher Audis, Mazdas und VWs.
Bereits 2007 startete Lucid Motors – damals noch unter dem Namen Atieva – als Zulieferer für Elektroantriebe. Sieben Jahre später ging es los mit der Entwicklung des ersten eigenen Modells namens Air. Seit 2016 trägt die Firma den Namen Lucid Motors und residiert seit 2019 im kalifornischen Newark (USA). Gebaut wird der Air im Werk in Casa Grande (Arizona, USA, Bild), ein weiteres Werk entsteht in Saudi-Arabien. Im Endausbau sollen 300'000 Autos pro Jahr vom Band laufen.
Lucid Motors, wesentlich mitfinanziert vom saudi-arabischen Staatsfonds, hat ein sehr erfahrenes Führungsteam angeheuert: CEO Peter Rawlinson gilt als Vater des Tesla-Erfolgs, weil er als Entwicklungschef einst das Model S anschob. Der Hardware-Technikchef Eric Bach kam ebenfalls von Tesla. Die Finanzchefin Sherry House ist von General Motors zu Lucid gestossen, Designer Derek Jenkins stylte vorher Audis, Mazdas und VWs.
Der Druck auf die etablierten Autobauer wächst stetig, und die Frage lautet, ob sie den neuen Playern überhaupt etwas entgegensetzen können. Chrysler dürfte im 14 Marken umfassenden Stellantis-Universum (u. a. Alfa, Citroën, Fiat, Peugeot und Opel) wohl nie mehr zu alter Stärke zurückfinden und höchstens noch eine Nische auf dem US-Heimmarkt besetzen. Anders sieht es bei Ford aus. Auch wenn Amerikas zweitgrösster Hersteller im globalen Ranking nur noch auf Platz 7 rangiert (4,0 Mio. produzierte Autos 2021), hat Ford ein grosses Ass im Ärmel: Der Fullsize-Pick-up F-150 führt seit vier Jahrzehnten die Statistik der meistverkauften Autos der USA an.
Ford und GM bald rein elektrisch
Ab nächstem Monat ist der Bestseller auch als rein elektrischer «Lightning» zu haben – und das Interesse der US-Kundschaft ist gross: Bereits lägen 200'000 Vorbestellungen auf den ab 40'000 Franken startenden, 452 PS starken 4x4-Elektro-Pick-up vor. Teurere und noch leistungsstärkere Versionen werden ebenfalls von Beginn weg angeboten. Erst kürzlich hatte Ford zudem angekündigt, allein in Europa bis in zwei Jahren sieben neue E-Fahrzeuge zu lancieren. Ab 2030 das Unternehmen auf dem alten Kontinent dann nur noch Stromer verkaufen.
Und auch GM zeigt sich kämpferisch. Anfang 2021 hatte GM-Chefin Mary Barra (60) verkündet, ab 2035 keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr anzubieten. Zig Milliarden Dollar will GM in den kommenden Jahren in den Wandel investieren. Die Elektro-Version des mächtigen Pick-ups GMC Hummer EV wird in der voll auf Stromer umgebauten «Factory Zero» bei Detroit bereits produziert. Anfang 2023 soll mit dem Chevrolet Silverado EV der grösste Konkurrent zum Ford F-150 Lightning anrollen – und eine deutlich breitere Masse mit Elektro-Pick-ups «Made by General Motors» ansprechen. Für viele Experten gehörten die Giganten des US-Automarkts schon zum alten Eisen. Doch es scheint, als könnten sie nochmals zu neuem Glanz zurückkehren. Kampflos räumen sie ihren Platz zumindest nicht.