Nachhaltigkeit, Zirkulärwirtschaft und Innovationen wie künstliche Intelligenz (KI) und autonomes Fahren: Diese Themen halten derzeit die Autobranche in Atem. Seit 2016 sorgt Renata Jungo Brüngger (62) bei der Mercedes-Benz Group AG dafür, dass im Transformationsprozess interne Nachhaltigkeit-Standards und gesetzliche Regelungen eingehalten werden. Blick traf die einzige Schweizerin im Vorstand eines Autokonzerns an der Messe Auto Zürich.
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Das Kobalt für die Batterien von E-Autos wird in Kinderarbeit im Kongo geschürft – dieses Argument wird immer wieder von Kritikern gegen die Elektromobilität ins Feld geführt. Was entgegnen Sie dem?
Renata Jungo Brüngger: Wir nehmen diese Vorwürfe schon lange sehr ernst. Menschenrechte gehören seit Jahren als eine Säule zu unserer nachhaltigen Geschäftsstrategie. In Deutschland gilt seit dem 1. Januar das sogenannte Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz, das von Unternehmen verlangt, auch die tieferen Lieferketten genauer anzuschauen, wenn es Anhaltspunkte für Missstände gibt.
Alle Lieferketten?
Wir haben für uns 24 Rohstoffe definiert, bei denen wir potenziell Menschenrechtsrisiken sehen – darunter natürlich auch Kobalt, Lithium und Nickel. Die Kobalt-Lieferkette haben wir bereits genauer analysiert und wissen, wo das Kobalt herkommt. Das ist durchaus komplex: Wir kaufen den Rohstoff ja nicht direkt ein, sondern über bis zu sieben Unterstufen in der Lieferkette. Und wir beteiligen uns an sozialen Projekten vor Ort, um die Lebensbedingungen oder das Bildungswesen zur verbessern. Ausserdem machen sich Einkäufer, Qualitätssicherer und Juristen aus meinem Ressort ein Bild von der Lage vor Ort.
Wie definieren Sie Nachhaltigkeit im Unternehmen?
Sehr breit. Beim Thema Nachhaltigkeit hat jeder sofort Umwelt-, Klima- und Ressourcenschutz im Sinn. Aber zur Nachhaltigkeit gehören eben auch soziale Fragen und Good Governance, also die gute Unternehmensführung.
Gibt es auch unabhängige Überprüfungen der Lieferketten?
Wir arbeiten mit unabhängigen Auditgesellschaften zusammen, die sich die Situation anschauen. Wir agieren also dreistufig: Transparenz der Lieferketten, Kontrolle durch Drittpartner und Präsenz vor Ort.
Aber lassen sich wirklich alle Verästelungen überprüfen?
Wir haben allein mehrere 10'000 direkte Lieferanten in komplexen Lieferketten – sie können nicht jeden Lieferanten ständig kontrollieren, auch wenn manche diese Vorstellung hegen. Wir werden nie hundertprozentige Sicherheit haben. Das fordert das deutsche Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz auch nicht: Es schreibt vielmehr eine Bemühenspflicht vor. Das beinhaltet beispielsweise, dass wir natürlich reagieren müssen, wenn uns ein Stakeholder – zum Beispiel eine NGO – eine problematische Situation in einer Lieferkette beschreibt.
Renata Jungo Brüngger (62) ist seit 2016 Vorständin für Integrität, Governance und Nachhaltigkeit der Mercedes-Benz Group AG in Stuttgart (D). Sie stammt aus Düdingen FR und lebt in Stuttgart und im Thurgau. Nach dem Jus-Studium in Freiburg und dem Anwaltspatent arbeitete sie in einer Zürcher Wirtschaftskanzlei, dann für Metro und den Tech-Konzern Emerson Electric. Bei Mercedes startete sie 2011 als Leiterin des Rechtsdienstes.
Renata Jungo Brüngger (62) ist seit 2016 Vorständin für Integrität, Governance und Nachhaltigkeit der Mercedes-Benz Group AG in Stuttgart (D). Sie stammt aus Düdingen FR und lebt in Stuttgart und im Thurgau. Nach dem Jus-Studium in Freiburg und dem Anwaltspatent arbeitete sie in einer Zürcher Wirtschaftskanzlei, dann für Metro und den Tech-Konzern Emerson Electric. Bei Mercedes startete sie 2011 als Leiterin des Rechtsdienstes.
Werden Sie auch von sich aus aktiv – ohne Whistleblower?
Ja, natürlich. Schliesslich wissen wir, wie heikel zum Beispiel bei Kobalt, Nickel oder Lithium Lieferketten sein können. Im Jahr 2021 haben wir und einige andere Unternehmen beispielsweise die Responsible Lithium Partnership-Initiative gestartet. Das ist ein Projekt zur Förderung der nachhaltigen Ressourcennutzung im Salar de Atacama in Chile. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH wurde mit der Koordinierung der Partnerschaft beauftragt, um eine gemeinsame Basis zu finden und eine Multi-Stakeholder-Plattform zu schaffen.
Die Kontrolle der Lieferketten bringt auch neue Kooperationen auch ins Spiel?
Wir können viele Nachhaltigkeitsfragen nur gemeinsam lösen. Unsere Wettbewerber haben ja genau die gleichen Themen auf dem Tisch. Auf europäischer und nationaler Ebene wird in diesem Zusammenhang auch das sogenannte grüne Kartellrecht diskutiert. Trotzdem besteht nach wie vor eine hohe Rechtsunsicherheit bei diesen Fragen, obwohl die Probleme eigentlich intensive Zusammenarbeit erfordern.
Mehrkosten von wenigen Rappen bei der Fahrzeugentwicklung und -produktion können sich massiv multiplizieren. Was passiert, wenn Sie in den Konflikt zwischen wirtschaftlichem Interesse und den Nachhaltigkeitsstandards kommen?
Wir haben vor einigen Jahren keine Nachhaltigkeitsstrategie, sondern eine nachhaltige Geschäftsstrategie definiert, die die betriebswirtschaftliche Seite mit einschliesst. Bis 2039 wollen wir bei allen Neufahrzeugen über alle Wertschöpfungsstufen und den ganzen Lebenszyklus hinweg bilanziell CO2-neutral sein. Mit den nötigen Umstellungen müssen wir heute schon anfangen. Und natürlich: Beispielsweise grüner Stahl oder norwegisches Aluminium mit 70 Prozent geringeren CO₂-Emissionen im Vergleich mit dem europäischen Durchschnitt verursachen zunächst einmal Mehrkosten.
Wie entscheiden Sie dann?
Immer im konkreten Fall. Aber ich persönlich bin überzeugt: Wir werden in Zukunft finanziell nur erfolgreich sein, wenn wir nachhaltig sind. Und das auf allen Ebenen.
Wer überprüft die Einhaltung der Nachhaltigkeitsstandards im Unternehmen?
In erster Linie natürlich die Ressorts und die Vorstände, denn Nachhaltigkeit in der breiten Definition betrifft das gesamte Unternehmen. Ich habe mit meinem Ressort seit diesem Jahr die Gesamtkoordinationsfunktion für Nachhaltigkeitsthemen übernommen. Damit bin ich jetzt noch stärker dafür verantwortlich, die Umsetzung der nachhaltigen Geschäftsstrategie voranzutreiben. Wie, das entscheidet das entsprechende Vorstandsmitglied. Aber ich muss dem Aufsichtsrat rapportieren, ob Meilensteine erreicht werden.
Gottlieb Daimler (1834–1900) und Carl Benz (1844–1929) bauten 1886 mit dem Benz Patent-Motorwagen 1 die erste Kutsche mit Benzinmotor. Keimzelle der heutigen Mercedes-Benz Group war der Zusammenschluss der Unternehmen der beiden Tüftler, Daimler-Motoren-Gesellschaft und Benz und Cie., zur Daimler Benz AG im Jahr 1926.
Im Jahr 2022 baute das Unternehmen 2,45 Mio. Fahrzeuge (2021: 2,32 Mio.), machte 150 Mrd. Euro Umsatz (2021: 133,9 Mrd. Euro) und erzielte dabei einen Gewinn von 20,5 Mrd. Euro (2021: 16,0 Mrd. Euro). CEO ist aktuell der Schwede Ola Källenius (54); das Unternehmen hat 170'000 Mitarbeitende.
Gottlieb Daimler (1834–1900) und Carl Benz (1844–1929) bauten 1886 mit dem Benz Patent-Motorwagen 1 die erste Kutsche mit Benzinmotor. Keimzelle der heutigen Mercedes-Benz Group war der Zusammenschluss der Unternehmen der beiden Tüftler, Daimler-Motoren-Gesellschaft und Benz und Cie., zur Daimler Benz AG im Jahr 1926.
Im Jahr 2022 baute das Unternehmen 2,45 Mio. Fahrzeuge (2021: 2,32 Mio.), machte 150 Mrd. Euro Umsatz (2021: 133,9 Mrd. Euro) und erzielte dabei einen Gewinn von 20,5 Mrd. Euro (2021: 16,0 Mrd. Euro). CEO ist aktuell der Schwede Ola Källenius (54); das Unternehmen hat 170'000 Mitarbeitende.
Elektromobilität ist nur eine der neuen Technologien: Derzeit bestimmt künstliche Intelligenz (KI) die Diskussion, die ja auch im autonomen Fahren eine wichtige Rolle spielt. Noch gibts keine gesetzlichen Regeln – wie orientieren Sie sich bei der Entwicklung solcher Innovationen?
Es ergibt keinen Sinn, dass ein Ingenieur etwas konstruiert und dann der Jurist oder Compliance Manager sagt: So gehts aber nicht. Deshalb gehen wir solche Entwicklungsprojekte nur in crossfunktionalen, interdisziplinären Teams an. Unsere Juristen, Compliance Manager, aber auch Ethik-Experten arbeiten direkt mit unseren Software-Ingenieuren vor Ort zusammen. Und zwar von Beginn des Projektes an.
Dennoch bleibt das Risiko, etwas später nicht Zulassungsfähiges entwickelt zu haben.
Die EU erarbeitet beispielsweise im Fall der KI derzeit Regulierungen – man sieht schon ein bisschen, in welche Richtung es geht. Wir haben schon 2018 interne Prinzipien für die Anwendung von KI definiert. Das heisst, die Ingenieure haben so bereits einen vorgegebenen Rahmen. Aber sie haben recht: Wir entwickeln heute Produkte, die erst in Jahren auf den Markt kommen. Und wir wissen nicht, wie die Regulierungen genau aussehen und ausgelegt werden.
Und wie gehen Sie damit um?
Wir versuchen, das unter dem Stichwort «adaptive Compliance» zu lösen und diskutieren mit den Ingenieuren heute, welche Risiken sie morgen sehen und in welche Richtung wir gehen sollten. Darum auch die diversen Teams: So sind Ethikexperten einbezogen, die sich das Vertrauen der Gesellschaft in neue Technologie anschauen. Sonst gerät man in ein Dilemma: Wir haben eine perfekte Lösung, technisch absolut einwandfrei. Der Kunde findet sie vielleicht auch toll. Aber der Rest der Gesellschaft ist nicht bereit, mit dieser Lösung zu arbeiten.
Gerade beim autonomen Fahren ist die gesellschaftliche Skepsis zu spüren.
Ich war Mitglied der Ethikkommission für autonomes Fahren in Deutschland. Und da war diese Fragen nach dem Vertrauen die grosse Herausforderung.
Wenn Unternehmen sich in Gesetzgebungsprozesse einmischen, wird das oft als Lobbyarbeit kritisiert – siehe zum Beispiel Abgasnormen. Wie gehen Sie mit Ihrer Rolle um?
Das ist wirklich ein Thema, das wir gut erklären müssen. Denn Innovationen sind schneller als Gesetzgebung. Deshalb müssen wir natürlich mit den Behörden zusammenarbeiten. Ich würde allerdings nicht von einseitiger Einflussnahme sprechen – diese Zeiten sind lange vorbei. Wir erklären die neue Technologie und gehen dann in einen offenen Austausch, in dem wir unsere Ziele und Herausforderungen klar beschreiben.
Müssen Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen oft einbremsen? Wer eine neue Technologie entwickelt hat, will den Vorsprung doch in Verkaufszahlen umsetzen – gesetzliche Regelung hin oder her.
Einbremsen würde ich nicht sagen. Das war vielleicht früher so. Heute diskutieren wir Juristen von Anfang an mit, wie weit wir das Risiko mittragen können. Und es gibt eine rote Linie: Sicherheit hat für uns höchste Priorität. Das ist Teil der DNA des Unternehmens.
Was ist für Sie ein Erfolg in der Diskussion mit dem Gesetzgeber?
Natürlich, wenn wir eine Genehmigung für eine Technologie erhalten, sind wir erfolgreich. Wir waren weltweit der erste Hersteller mit einer Genehmigung für das automatisierte Fahren nach Level 3. Natürlich waren wir stolz darauf, aber es geht in erster Linie darum, dass wir als seriöser und vertrauenswürdiger Partner gelten, der offen kommuniziert.
Sie sind die einzige Schweizerin im Vorstand eines DAX-Unternehmens. Hat Ihnen Ihre Herkunft in Ihrer Karriere geholfen?
Das würde ich nicht sagen. Ich bin jetzt seit fast 13 Jahren in Deutschland – da bin ich schon ein bisschen assimiliert. Die Mentalität von Schwaben und Schweizern ist auch in vielen Dingen ganz ähnlich. Klischees wie Ordnungssinn, Pünktlichkeit oder Fleiss gelten doch für beide Kulturen. Vielleicht sind Schwaben ein bisschen direkter als die etwas höflicheren und zurückhaltenden Schweizer. Hier habe ich mir vermutlich mittlerweile etwas von den Schwaben abgeschaut: Ich bin jetzt in den Diskussionen auch direkter unterwegs.
Dachten Sie im Studium darüber nach, jemals in der Autoindustrie zu landen?
Ganz ehrlich gesagt: Nein. Ich habe angefangen in einer klassischen Anwaltskanzlei, aber bin dann auf die Unternehmensseite gewechselt, weil mir das viel mehr Spass gemacht hat. Manche Juristen bremsen lieber, aber ich ermögliche lieber Business. Zehn Jahre habe ich bei Emerson Electric gearbeitet, einem ingenieursgetriebenen, komplexen Unternehmen mit Matrix-Organisation – genau wie Mercedes-Benz. Das hat mir geholfen, in der Autoindustrie schnell Fuss zu fassen. Das Wichtige ist, dass man an die Kultur des Unternehmens andocken kann. Mit ein wenig Affinität und Spass an schönen Autos klappte die Anpassung recht schnell.
Gehört Unternehmenskultur auch zur Nachhaltigkeitsstrategie?
Natürlich spielt das eine grosse Rolle. Wir sind ein sehr globales Unternehmen und in rund 150 Ländern tätig. Mercedes-Benz ist heute zudem ein sehr diverses Unternehmen – und das ist ein Vorteil, weil diverse Teams kreativere Ideen haben. Jetzt im November werden wir zwei Wochen rund um den Globus die Themen Fairness, Verantwortung und Transparenz diskutieren, intern heisst die Initiative «Integrity meets you». Auch das fördert eine gemeinsame Kultur im Unternehmen.
Aber wahrscheinlich ist es nicht ganz einfach, alle dazu zu bringen, an in einem Strang ziehen.
Ich glaube, ein gemeinsamer Faktor ist tatsächlich der Mercedes-Stern. Unsere Mitarbeitenden sind unglaublich stolz, dass sie für diese Marke arbeiten, und ich bin es auch. Und Werte wie Integrität und Nachhaltigkeit gelten im Unternehmen weltweit; von Argentinien bis Vietnam. Aber ganz klar: Kulturarbeit ist ein dauernder Prozess.