Der 24. Februar 2022 ist ein Datum, das in Geschichtsbüchern dick angestrichen wird. Es ist der Tag, an dem die russische Armee in die Ukraine einmarschierte und der Tag, an dem sich die ganze Weltordnung zu verändern begann. Kaum jemand hatte geglaubt, dass es innert so kurzer Zeit wieder zu einem Krieg in Europa kommen würde.
Wir blicken zurück und zeigen, wie schlimm es um die Ukraine steht und was noch auf uns zukommen könnte.
Die Invasion
Am Anfang stand die Lüge. Ständig behauptete der russische Präsident Wladimir Putin (71), beim Zusammenzug von 150’000 Soldaten an der ukrainischen Grenze handle es sich lediglich um eine Übung. Am 24. Februar 2022, um 4 Uhr Schweizer Zeit, offenbarte sich diese Lüge auf grausame Weise. Von Norden, von Süden und von Osten her blies er zum Einmarsch ins westliche Nachbarland.
Auch sein eigenes Volk log er an: Den Krieg nannte er eine «militärische Spezialoperation», die dazu diene, die Ukraine von Nazis zu befreien. In Tat und Wahrheit geht es dem russischen Machthaber darum, mit einem ersten Schritt das Nachbarland einzunehmen und anschliessend mindestens das alte Sowjetreich wiederherzustellen.
Der Schock weltweit war gross. In Europa erwartete man, dass die russische Armee das Nachbarland innert weniger Tage überrennen würde. Weit gefehlt. Der gegen 60 Kilometer lange Militärkonvoi der Kreml-Truppen blieb kurz vor Kiew stecken. Seit der Annexion der Krim und des Ausbruchs des Konflikts im Donbas 2014 hatten die Ukrainer ihre Wehrbereitschaft massiv ausgebaut, wie sich bei der Rückschlagung der Angreifer zeigte.
Während die Russen nordwärts zum Rückzug blasen mussten, schlugen ihre Kameraden im Westen und Süden umso mehr zu. Ihre Brutalität zeigte sich am 2. April 2022, als das Massaker von Butscha entdeckt wurde. Hier hatten die Invasoren über 450 Menschen gefoltert und niedergemetzelt.
Weitere wichtige Stationen der Russen war die Einnahme von Mariupol und Cherson. Die im Frühsommer 2023 eingeleitete Gegenoffensive der Ukrainer mit westlichen Waffen brachte nicht den gewünschten Erfolg. Immerhin ist es der ukrainischen Armee in den zwei Jahren Krieg gelungen, die russischen Soldaten von Kiew und Charkiw fernzuhalten sowie Cherson und weitere Gebiete zurückzuerobern.
Der Widerstand
Die Gegenwehr der angegriffenen Nation ist enorm. Dazu zählen natürlich die gelieferten Waffen sowie Präsident Wolodimir Selenski (46), der seine Armee zum Kampf und den Westen zur Hilfe motivieren kann. Ralph D. Thiele (70), Vorsitzender der deutschen Politisch-Militärischen Gesellschaft und Präsident von EuroDefense Deutschland, bilanziert: «Der kluge Widerstand der ersten Stunden und Tage hat den Gegner erschüttert, der eigenen Bevölkerung Zuversicht gegeben und die Moral der eigenen Soldaten beflügelt.»
Nebst den Erfolgen bei der Verteidigung der Hauptstadt und dem Durchbruch bei Charkiw zählt der ehemalige Direktor Lehre an der Führungsakademie der Bundeswehr zwei weitere wichtige Ereignisse auf: die kontinuierliche Schwächung der russischen Marine im Schwarzen Meer mit der Versenkung des Flaggschiffes «Moskwa» sowie die Starlink-gestützte Kommunikation in den ersten Wochen. Starlink ist ein von Elon Musks (52) Raumfahrunternehmen SpaceX betriebenes Satellitennetzwerk, das den Ukrainern Zugang zum Internet auch in abgelegenen Orten ermöglicht.
Der Widerstand hat dazu geführt, dass es auf russischer Seite zu Streit gekommen ist. Der Chef der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin (†62), zog mit seinen Söldnern drohend Richtung Moskau, wendete aber schliesslich Richtung Belarus ab. Wenige Wochen später kam er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.
Die Schwäche
In jüngster Zeit hat die Kritik an Selenski zugenommen. In einem internen Machtkampf hat er vor wenigen Wochen den beliebten Armeechef Waleri Saluschni (50) entlassen und durch Olexander Sirski (58) ersetzt. Thiele ortet auch strategische Fehler: «Der ukrainische Präsident überschätzt das symbolische Festhalten an strategisch unbedeutenden Orten wie Bachmut und opfert darüber anderswo dringend benötigte, hochwertige Kampfkraft.»
Zudem sei Selenskis Dauerpräsenz in den internationalen Medien auch kontraproduktiv. Thiele: «Die fortgesetzte mediale Überhöhung der eigenen Forderungen bestärkt Skeptiker im In- und Ausland und lenkt von dringend erforderlichen, ganzheitlichen strategischen und operativen Überlegungen ab.» Es habe sich eine Art «Hand in den Mund»-Kriegsführung entwickelt, bei der die internationale Unterstützung zusehends versickere.
Die Müdigkeit
In den vergangenen Wochen musste die Ukraine einige Rückschläge erleben – so am Wochenende mit der Eroberung von Awdijiwka durch die Russen. Den Ukrainern geht die Munition aus, während Moskau Drohnen aus dem Iran, Munition aus Nordkorea und zumindest Produktionsmaschinen aus China erhält. Mit Fernbeschuss auf Zentren setzt der Kreml auf Zermürbung.
«Die Ukraine ist in vielen Dimensionen unter Druck – Land, See, Luft, Cyber, Weltraum, Politik und Gesellschaft», sagt Thiele. Zwar hätten die westlichen Staaten viel an Material geliefert, was aber auch zu Problemen führe. Thiele: «Die Logistik ist mit einem Albtraum-Sammelsurium an Waffensystemen überfordert.»
Während die westlichen Staaten die Waffenlieferungen zurückfahren, würden auch die gelobten Helden kriegsmüde, sagt Thiele. Gleichzeitig bereite sich Russland in allen Dimensionen und mit Kriegswirtschaft auf einen langwierigen, auszehrenden Krieg vor. Thiele warnt: «Die Front bröckelt. Es droht eine Implosion.»
Die Zukunft
Wie viele Opfer der Krieg bisher gefordert hat, kann man nur schätzen. Externe Beobachter gehen von insgesamt 500’000 Toten und Verwundeten aus. Laut UNHCR haben 13,7 Millionen Ukrainer ihr Land verlassen, 6,4 Millionen sind inzwischen wieder heimgekehrt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) spricht von 23'000 Vermissten.
An der Front herrscht zurzeit eine Pattsituation mit leichtem Vorteil für die Russen. Um weiterhin erfolgreich gegen die Angreifer zu bestehen, ist die Ukraine auf neue frische personelle Ressourcen und Waffenlieferungen angewiesen. Nach wie vor sind in den USA 60 Milliarden Dollar blockiert. Ob sie freigegeben werden, ist offen.
Daneben braucht die Ukraine laut Thiele auch einen gezielten Zufluss von neuen Technologien. Der Experte spricht unter anderem von Schwärmen von untereinander vernetzten Drohnen, von denen einige Ziele auskundschaften und andere Bomben transportieren. Ebenfalls müsse die elektronische Kampfführung ausgebaut werden.
International wichtig sind laut Thiele nicht nur die Lieferungen. Im Vordergrund stünden auch «robuste Fähigkeiten der Nato und ihrer Mitgliedstaaten». Würde im November Donald Trump (77) wieder zum US-Präsidenten gewählt, könnte es zu einer Schwächung der Nato kommen. Trump war schon während seiner Amtszeit nicht gut auf die Nato zu sprechen und hat in den vergangenen Tagen gedroht, jene Nato-Länder fallen zu lassen, die bisher nicht genug in ihre eigene Armee investiert haben.
Die Bedrohung
In den vergangenen Wochen schlugen mehrere europäische Spitzenpolitiker Alarm und warnten vor einer Ausweitung des Krieges auf europäische Nato-Länder. Thiele mahnt zur Ruhe: «Wir Europäer sollten das Kriegsgeschrei nicht übertreiben, denn im Grunde wird es lediglich genutzt, um sträfliche Defizite der Vergangenheit im Verteidigungsbereich zu überwinden.»
Anstelle einer Ausweitung des Krieges erwartet Thiele eine belastende Zeit hybrider Angriffe aus Russland, China sowie seitens islamistischer Akteure. Thiele: «Dies wird unsere Prosperität belasten und unsere Länder in der globalen Wertschöpfungskette absteigen lassen.»
Für Thiele steht fest, dass ein baldiges Kriegsende im Interesse der europäischen Staaten und auch im Interesse der Ukraine liege. Thiele: «Es braucht deshalb zielführende aussenpolitische Initiativen in Richtung Konfliktbeendigung.»