«Ein Krieg ist so wahrscheinlich wie seit 30 Jahren nicht mehr»
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Experte über Ukraine-Krise:Stehen wir vor einem Krieg?

Von den Russen umzingelt! Sergiy Gayday (46), Regierungschef von Lugansk in der Ostukraine, über die Kriegsgefahr
«Ich rechne mit einer Invasion – wir stehen bereit!»

Sergiy Gayday (46) lebt gefährlich. Als Regierungschef von Lugansk in der Ostukraine ist er mit den aktuellen russischen Aggressionen am meisten konfrontiert. Blick verriet er, mit welchen Invasions-Szenarien er rechnet und was er Putin sagen möchte.
Publiziert: 08.02.2022 um 20:28 Uhr
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Aktualisiert: 09.02.2022 um 07:08 Uhr
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Sergiy Gayday (l.) wurde 2019 zum Leiter der Regionalen Staatsverwaltung von Lugansk ernannt. Präsident Wolodimir Selenski gratulierte ihm dazu.
Foto: Zvg
Interview: Guido Felder

Die Ukraine kommt nicht zur Ruhe. 2014 annektierte Russland die Halbinsel Krim und besetzte Gebiete im Donbass im Osten des Landes. Nun hat der russische Präsident Wladimir Putin (69) über 110’000 Soldaten um die Ukraine aufgestellt. Es droht eine Invasion, wenn sich das Land der EU oder der Nato zuwendet.

Bei den besetzten und am meisten bedrohten Gebieten im Donbass handelt es sich um die beiden Verwaltungsregionen Lugansk und Donezk. Blick sprach mit dem parteilosen Regierungschef der Oblast Lugansk, Sergiy Gayday (46), via Skype und Übersetzerin über die Bedrohung und wie er sich auf eine mögliche Invasion vorbereitet.

Blick: Herr Gayday, Teile der Ostukraine sind seit 2014 von Russen besetzt. Wie hat sich bei Ihnen das Leben seither verändert?
Sergiy Gayday:
Die russische Aggression hat unsere Infrastruktur zerstört. Flughafen und Eisenbahn funktionieren nicht mehr, es gibt Probleme mit der Wasserversorgung.

Wie zeigt sich die russische Besatzung auf der Strasse? Müssen Sie Angst haben, wenn Sie das Haus verlassen?
Hier in der Stadt Lugansk nicht. In den von den Russen besetzten Gebieten in der Oblast Lugansk schon. Sie würden mich sofort verhaften – und das in meinem eigenen Land.

Wird immer noch geschossen?
Ja, von Waffenstillstand keine Spur. Vor allem, wenn Verhandlungen anstehen, versuchen die Russen jeweils mit verstärkten Aggressionen eine Eskalation herbeizuführen.

Wie werden Sie von Kiew her unterstützt?
Früher waren wir vernachlässigt worden. Präsident Selenski, der seit 2019 im Amt ist, hat uns aber schon 21 Mal besucht. Dank seines Programms werden nun Häuser, Schulen, Kindergärten, Gesundheitseinrichtungen und Sportzentren saniert. Auch bauen wir eine neue Eisenbahn- und Trolleybuslinie.

Wie viele Russen leben jetzt im Donbass?
Das ändert immer wieder. Russische Soldaten kommen, schiessen auf unsere Leute und gehen nach zwei Wochen wieder, um andern Platz zu machen.

Wie viel des Gebiets haben die Russen besetzt?
In der Oblast Lugansk rund 30 Prozent.

Putin dementiert, dass er eine Invasion in die Ukraine plane. Trauen Sie ihm?
Putin hat immer von Partnerschaft geredet, dann die Krim annektiert und den Donbass besetzt. Wie kann man einer solchen Person vertrauen?

Rechnen Sie mit einer Invasion?
Ja. Und wir stehen bereit. Ein Teil der ukrainischen Armee ist hier und führt auch die Bevölkerung in den Umgang mit Waffen ein. Tausende von Freiwilligen haben sich angeschlossen.

Wie viele ukrainische Soldaten sind im Donbass?
Das ist geheim. Aber genug, um die Region und die Ukraine verteidigen zu können. Im Gegensatz zu 2014 hat sich unsere Armee extrem modernisiert.

Wie könnte eine Invasion ablaufen?
Es könnte eine Provokation ausgelöst werden, für die man die Ukraine verantwortlich macht und die einen Grund für einen Angriff bietet.

Wo werden die Russen eindringen? Mit welchen Szenarien rechnen Sie?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Sie könnten in unsere benachbarte Oblast Charkiw eindringen, von Belarus die Grenze überschreiten oder auf dem Seeweg die ukrainische Stadt Mariupol angreifen. Eine Möglichkeit ist auch ein Angriff von der Krim aus. Die Halbinsel ist dringend auf Wasser angewiesen.

Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko hat gesagt, dass er selber zur Waffe greifen und an die Front stehen werde. Wären auch Sie dazu bereit?
In einem Konflikt hat jeder seine Aufgabe. In meiner Funktion stehe ich in ständigem Kontakt mit dem Verteidigungsministerium in Kiew und kümmere mich unter anderem um den Schutz der Bevölkerung und von Objekten.

Seit der Besetzung durch die Russen sind viele Ukrainer vom Osten westwärts geflohen. Was müsste passieren, dass auch Sie Lugansk verlassen würden?
Ich bleibe, egal was passiert.

Was würden Sie Putin sagen, wenn Sie ihm begegneten?
Zwei Dinge. Nach der Unabhängigkeit von 1991 fühlten sich die Ukrainer noch nicht als Nation. Seit 2014 sind wir es. Der Konflikt schweisst uns zusammen. Und dass es nur an ihm liege, dass es endlich wieder Frieden gibt.

* Sergiy Gayday (46) ist seit 2019 Leiter der Regionalen Staatsverwaltung von Lugansk, was dem Amt eines Gouverneurs oder Regierungschefs entspricht. Präsident Wolodimir Selenski hat Gayday eingesetzt, weil er «mit dem Tempo» von dessen Vorgänger nicht zufrieden war. Die Ukraine ist in 24 Oblaste aufgeteilt.


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