Nach dem Treffen von Blinken und Lawrow in Genf
Wie Putins Einmarsch in die Ukraine aussehen könnte

Am Freitag sprachen die USA und Russland in Genf Klartext. Die Gefahr für eine russische Invasion in der Ukraine ist trotz des Treffens der beiden Aussenminister noch nicht gebannt.
Publiziert: 23.01.2022 um 09:47 Uhr
Putin hat die roten Linien bereits verschoben, analysiert Auslandsredaktorin Fabienne Kinzelmann.
Foto: Thomas Meier
Fabienne Kinzelmann

Hat Putin Lust auf Krieg? In der vergangenen Woche verlegte er zusätzlich zu den vor der Ostukraine zusammengezogenen Truppen auch Streitkräfte nach Belarus. Sie könnten bei einem Vorstoss nach Süden – also auch in Richtung Kiew – eingesetzt werden. Das ist eine der drei möglichen Vormarschrouten. Die anderen beiden führen zentral von Osten in die Ukraine oder südlich über die Landenge von Perekop, welche die Krim und das ukrainische Festland verbindet.

Dem hätte die Ukraine wenig entgegenzusetzen. Der laute Ruf ihrer Unterstützer nach Waffenlieferungen scheint realitätsfern. Das russische Militär ist haushoch überlegen. Zumal die Zeit wohl zu knapp wäre, um ukrainische Soldaten in hoher Anzahl an schweren Kampfgeräten auszubilden.

Und doch: Mit dem Einmarsch hätte Putin wenig zu gewinnen und viel zu verlieren.

Anders als die völkerrechtswidrige Annektierung der Krim will der Westen die Invasion der Ukraine keinesfalls zulassen – das machte US-Aussenminister Antony Blinken nach dem Gespräch mit seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow am Freitag in Genf klar: Jeder Schritt über die Grenze sei einer zu viel. Explizit definierte Blinken auch andere Kriegstaktiken wie Cyberattacken als rote Linie.

Die beiden Top-Diplomaten einigten sich auf weitere Gespräche. Zuvor will Washington schriftlich auf die Sicherheitsforderungen Moskaus antworten.

Für Putin ist der diplomatische Weg attraktiv. Mit militärischen Mitteln kann er seinem Reich bestenfalls die Ukraine einverleiben. Die Sicherheitsforderungen an die Nato, um die es ihm ja angeblich geht, wären nach einer Invasion vom Tisch.

Russlands Präsident hat aber noch eine weitere Option: ein «bisschen» einmarschieren. So weit, dass sich im russischen Einflussbereich etwas verändert, aber nicht so weit, dass der Westen mit Sanktionen oder Militärschlägen reagieren würde.

Tatsächlich hat Putin die strategischen Linien bereits verschoben: Schon einige seiner dort stationierten Bodentruppen wieder von der ukrainischen Grenze zu entfernen, könnte für den Westen ein Verhandlungserfolg sein – selbst wenn Putin weiterhin prorussische Rebellen in den abtrünnigen Ukraine-Regionen Donezk und Luhansk unterstützt.

Oder er entsendet «Friedenstruppen» dorthin, bis die Friedensgespräche erfolgreich abgeschlossen sind. Was vor allem bedeuten müsste, dass Kiew der Umsetzung des Minsker Abkommens zustimmt. Die 2015 unter Druck geschlossene Übereinkunft würde den von Russland kontrollierten Gebieten Autonomiestatus gewähren und geniesst deshalb wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Doch das Abkommen ist nach wie vor der einzige politische Plan, der in der Ostukraine Frieden herzustellen vermag.

Schon jetzt kann Putin also beinahe nur gewinnen – solange er weiter verhandelt.

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