Marschieren die Russen ein oder sind es nur Drohgebärden? An der Ostgrenze der Ukraine ist die Lage höchst angespannt. Die jüngsten Gespräche unter Vertretern der Nato, Russlands und der Ukraine – unter anderem in Genf – brachten keine Einigung.
Blick sprach mit dem ukrainischen Botschafter Artem Rybtschenko (38) über dessen Angst vor einem Einmarsch und die Expansionsgelüste von Russlands Präsident Wladimir Putin (69).
Blick: Herr Botschafter, was halten Sie von den Verhandlungen in den vergangenen Tagen, die ja zum Teil auch in Genf stattfanden?
Artem Rybtschenko: Ich bin sehr erfreut darüber, wie uns unsere Partner unterstützen. Aber es ist nach wie vor offen, wie es weitergeht.
Der ehemalige Boxweltmeister Vitali Klitschko, heute Bürgermeister der Hauptstadt Kiew, sagte diese Woche, dass er sich auf einen Einmarsch der Russen vorbereite. Haben Sie ebenfalls Angst vor einem Einmarsch?
Natürlich, und diese Bedrohung ist real. Allein 2021 hat Russland 2500 militärische Übungen in der Nähe der Grenze durchgeführt. Allerdings gibt es einen grossen Unterschied zu 2014, als die Russen Gebiete im Osten der Ukraine besetzten. Damals traf der Einmarsch uns und die Welt unvorbereitet.
Der Bürgermeister von Kiew, der frühere Boxweltmeister Vitali Klitschko (50), bereitet die ukrainische Hauptstadt auf einen möglichen Einmarsch russischer Truppen vor. Zu CNN sagte er: «Wenn es eskaliert, müssen wir bereit sein.» Er habe bereits Reservisten aufgeboten, hoffe aber, dass Russland nur «seine Muskeln spielen» lasse und nicht Ernst mache.
Russland hat nach US-Erkenntnissen an der ukrainischen Grenze über 100'000 Soldaten zusammengezogen, die seit Dienstag Übungen mit scharfer Munition und Panzern durchführen. Moskau bestreitet, einen Einmarsch zu planen.
Der Konflikt in der Ostukraine brach aus, nachdem Russland 2014 die ukrainische Halbinsel Krim annektiert hatte. Moskau unterstützt Separatisten, die im Osten der Ukraine die sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk ausgerufen haben. Der Konflikt forderte bisher über 13'000 Tote. (gf)
Der Bürgermeister von Kiew, der frühere Boxweltmeister Vitali Klitschko (50), bereitet die ukrainische Hauptstadt auf einen möglichen Einmarsch russischer Truppen vor. Zu CNN sagte er: «Wenn es eskaliert, müssen wir bereit sein.» Er habe bereits Reservisten aufgeboten, hoffe aber, dass Russland nur «seine Muskeln spielen» lasse und nicht Ernst mache.
Russland hat nach US-Erkenntnissen an der ukrainischen Grenze über 100'000 Soldaten zusammengezogen, die seit Dienstag Übungen mit scharfer Munition und Panzern durchführen. Moskau bestreitet, einen Einmarsch zu planen.
Der Konflikt in der Ostukraine brach aus, nachdem Russland 2014 die ukrainische Halbinsel Krim annektiert hatte. Moskau unterstützt Separatisten, die im Osten der Ukraine die sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk ausgerufen haben. Der Konflikt forderte bisher über 13'000 Tote. (gf)
Es heisst, dass Russland gegen die Ukraine bereits einen Hybridkrieg führe, also Attacken auf verschiedenen Ebenen. Wie äussert sich das?
Russland hat alle Mechanismen in Bewegung gesetzt, um eine Anbindung der Ukraine an Europa zu verhindern. Es geht um Druck in der Energieversorgung, um Fake News und Cybersicherheit. Seit 2014 verzeichneten wir Hunderte von Cyberangriffen auf offizielle Seiten. Doch solche Angriffe machen uns stärker: Wir verfügen im IT-Bereich und in der Cyberabwehr nun über grosse Erfahrung, die wir auch exportieren können.
Bilder zeigen, wie ukrainische Soldaten mit hölzernen Gewehrattrappen trainieren. Wie lange könnte die Armee bei einem Einmarsch Widerstand leisten?
2014 war unsere Armee in einem schlechten Zustand. Inzwischen hat sie massiv aufgerüstet, wir haben modernste Waffen und Systeme angeschafft – vor allem dank der USA. Zudem haben wir bei den Kämpfen im Osten des Landes konkrete Kriegserfahrungen sammeln können. Die Armee von 2014 und jene von 2022 sind komplett verschiedene Streitkräfte.
Was halten Sie eigentlich von Putin?
Was soll ich von einem Menschen halten, der die Krim stiehlt, Ukrainer tötet und mein Land besetzt?
Er hat gesagt, dass er nicht die Absicht hege, in die Ukraine einzumarschieren.
Er ist eine Person, der man nicht trauen kann. Nur ein Beispiel: Er hat 2014 ukrainischen Truppen freies Geleit aus den besetzten Gebieten versprochen. Als unsere Truppen abziehen wollten, wurden sie von allen Seiten unter Beschuss genommen. Auch ans Minsker Friedensabkommen hält er sich nicht.
Putin sagt, dass er eine Annäherung der Ukraine an die Nato oder die EU verhindern wolle. Wie konkret sind denn die Absichten der Ukraine, sich dem Westen anzuschliessen?
2019 gab es eine Verfassungsänderung. 334 der insgesamt 450 Abgeordneten stimmten einer vollen Mitgliedschaft bei der EU und der Nato zu. Das ist ein klares Bekenntnis zum Anschluss an die europäische Familie.
Was, glauben Sie, ist das eigentliche Ziel Putins? Will er ein russisches Grossreich schaffen?
Ganz klar. Er will die Ukraine und andere Länder wieder einverleiben wie damals zur Sowjetzeit.
Er steht ja auch mit Belarus in sehr engem Kontakt und hat Friedenstruppen in den Unruheherd Kasachstan geschickt …
Gerade die Militarisierung von Belarus, mit dem wir vor Jahren eine ausgezeichnete Zusammenarbeit pflegten, ist für uns ein Problem. Die lange gemeinsame Grenze bedeutet für uns eine grosse Bedrohung. Man kann nie wissen, ob militärische Aktionen von da aus gestartet werden. Auch bei den sogenannten Friedenstruppen in Kasachstan weiss man nicht, was Putin mit ihnen wirklich vorhat.
Wie könnte der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland beigelegt werden?
Für uns gibt es nur einen Weg: auf politischem und diplomatischem Parkett. Niemals mit Gewalt. Unsere Soldaten haben die Anweisung erhalten, nur bei Angriff zu schiessen. Die Ukraine respektiert das Völkerrecht.
Wie könnte ein Kompromiss aussehen, der für beide Seiten stimmt?
Wir müssen noch mehr über die gegnerische Position wissen und neue Ansätze suchen. Es darf keine Entscheidung über die Ukraine ohne die Ukraine geben.
Wie weit könnte die Ukraine einen Kompromiss eingehen?
Eine gestohlene Krim und besetzte Gebiete im Osten: Welche Kompromisse sollten wir denn noch eingehen? Unser Präsident Wolodymyr Selenskyj ist bereit, Putin zu treffen. Doch der sagt immer wieder ab.
Wie sehen Sie die Rolle der Schweiz in diesem Konflikt?
Die Schweiz unternimmt viele hilfreiche Schritte. Angefangen bei den aktiven Anstrengungen zur Deeskalation, als sie den OSZE-Vorsitz hatte, über die humanitäre Hilfe in den Krisengebieten bis hin zu gegenseitigen Besuchen von Ministern. Erst am Montag haben sich Bundespräsident Ignazio Cassis und unser Präsident Wolodymyr Selenskyj am Telefon über die bedrohliche Lage unterhalten. Am 4. und 5. Juli ist zudem in Lugano die Ukraine-Reformkonferenz geplant, sozusagen ein Mini-WEF, an dem sich unser Land auch präsentieren kann.
Diese Woche gab der Bundesrat bekannt, dass die Schweiz in der Agrarwirtschaft enger mit Russland zusammenarbeiten wolle. Was halten Sie davon?
Die Ukraine ist ein grosses Agrarland. Für mich als Botschafter wäre es angenehmer, wenn die Schweiz im Agrarsektor mit der Ukraine zusammenarbeiten würde. Doch es ist Business und allein eine Entscheidung dieser beiden Länder.
Artem Rybtschenko (38) ist seit 2018 Botschafter der Ukraine in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein. Er hat Internationale Beziehungen und Rechtswissenschaften studiert. In seiner Heimat arbeitete er bei der Drogenkontrolle und im Aussenministerium. Vor seinem Amt in Bern war er Botschaftsrat in Wien. Rybtschenko ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.