Hat sich an der russisch-ukrainischen Grenze die Lage beruhigt, oder ist es die Ruhe vor dem grossen Sturm? Nach dem Aufmarsch von über 100'000 russischen Soldaten hört man von ihnen nicht mehr viel. Doch: Die ukrainische Regierung ist auf alles gefasst, sogar auf einen Einmarsch.
Kreml-Chef Wladimir Putin (69) droht mit dieser kriegerischen Massnahme, wenn eine ehemalige Sowjetrepublik Nato-Mitglied werden sollte oder die Nato in osteuropäischen Staaten Truppen stationiert.
Ein Einmarsch hängt aber auch von einem anderen Faktor ab. Thomas Jäger (61), Professor am Lehrstuhl für Internationale Politik und Aussenpolitik an der Universität zu Köln, zu Blick: «Die offene Frage ist, wie effektiv der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte sein wird. Das ist für die Entscheidung Russlands kurzfristig die wichtigste Frage.»
Ukraine viel schwächer
Doch diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Fakt ist, dass Russlands Verteidigungsbudget gemäss des International Peace Research Instituts mit 61 Milliarden US-Dollar rund zehnmal grösser ist als das der Ukraine, das mehr oder weniger mit jenem der Schweiz verglichen werden kann.
Allein für die Beschaffung neuer Waffen bezahlt Russland jährlich rund 25 Milliarden Dollar, die Ukraine hingegen kann sich Neuanschaffungen im Wert von lediglich einer Milliarde Dollar leisten. Die russische Armee zählt rund eine Million aktive Soldaten, dazu zwei Millionen Reservisten.
Noch vor acht Jahren, als Russland die Halbinsel Krim annektiert hat, lag die ukrainische Armee am Boden. 2014 konnte die Regierung nur einen Bruchteil der 120’000 Mann umfassenden Truppe aufbieten, wobei die Kampfpanzer eingemottet sowie die wichtigsten Luftabwehrsysteme nicht einsatzfähig und von den 46 MiG-29-Jets nur gerade deren vier flugtauglich waren.
Diese Einschätzung stammt von Mykola Bielieskow, einem Verteidigungsanalysten am Nationalen Institut für Strategische Studien, das dem ukrainischen Präsidenten unterstellt ist. «Die Ukrainer wissen, wie man kämpft, aber ihnen fehlt die Ausrüstung, insbesondere für Operationen am Boden», sagt Bielieskow auf bloomberg.com.
Ukraine hat aufgerüstet
Inzwischen haben die Ukrainer aber aufgerüstet. Heute sei das Land in der Lage, den Grossteil der 205’000 Soldaten mit funktionstüchtigen, wenn auch oft veralteten Waffen aufzubieten. Die aus Sowjetzeiten stammende Industrie hat neue Raketen, Überwachungsdrohnen und radargesteuerte Artillerieabwehrsysteme entwickelt.
Das Problem besteht jedoch darin, dass die Regierung nicht einmal genügend der im Land hergestellten Waffen gekauft habe. Zudem fehlt es auch bei der Ausrüstung an allen Ecken und Enden, so etwa an Helmen und kugelsicheren Westen. Trainiert wird teilweise mit Holzgewehren.
Experten erwarten, dass die Ukraine im Fall eines russischen Angriffs gar nicht dazu kommen werde, ihre Waffen einzusetzen. Sie gehen davon aus, dass Russland seine technologischen Vorteile nutzen könnte, um das ukrainische Militär aus der Ferne kampfunfähig zu machen und Luftwaffe, Flugplätze, Abwehrsysteme, Munitionsdepots sowie Kontrollsysteme auszulöschen.
Ukraine wohl ohne Unterstützung
Wie gross die Hilfe bei einem Angriff aus dem Ausland sein würde, ist nicht klar. US-Präsident Joe Biden (79) hat Kiew zwar seinen Beistand und eine Lieferung von zusätzlichem Material versprochen. Er hat auch klargemacht, dass die USA und ihre Verbündeten «entschlossen antworten werden, wenn Russland weiter in die Ukraine einmarschiert». Doch zu mehr als weiteren Sanktionen dürfte es wohl selbst bei einem Einmarsch nicht kommen.
Am 9. und 10. Januar finden in Genf Gespräche zwischen Vertretungen Russlands und der USA statt. Darauf folgen eine Sitzung des Nato-Russland-Rats sowie Gespräche der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Nicht auszudenken, was geschehen könnte, wenn am Verhandlungstisch keine Einigung erzielt wird.