Wie eine Schlinge ziehen sich russische Truppen um die Ukraine zusammen. Jederzeit könnte die Invasion losgehen, wird in Kiew befürchtet. Doch nicht nur die Ukraine wird von Moskau bedroht. In Gefahr sind auch weitere Nachbarländer Russlands, so die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Auch wenn diese drei ehemaligen Sowjetrepubliken unter dem Schutz der Nato stehen, könne man für nichts garantieren, sagt der litauische Politkommentator der Zeitung «Lietuvos Rytas», Vytautas Bruveris (48), zu Blick.
Bruveris: «Die Frage der Bedrohung Moskaus gegenüber den baltischen Staaten ist momentan wegen der Nato-Mitgliedschaft eher theoretischer Natur. Aber wenn die russischen Aggressionen weiter zunehmen und sich die russische Diktatur weiterhin in diese Richtung entwickelt, muss man längerfristig mit allem rechnen.» Ein diktatorisches Regime sei schwer berechenbar, weil es meistens irrational handle, sagt Bruveris.
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Als Szenario sieht der litauische Journalist zum Beispiel die rasche Besetzung einzelner Regionen der baltischen Staaten, um zu testen, wie die Nato reagiert. «Die Nato müsste dann mit Militärgewalt jemanden aus dem Land kicken. Die Frage ist, wie weit sie sich auf ein solches Vorgehen, das bis zu einer atomaren Konfrontation führen könnte, einlassen würde.»
Viele Russen in Nachbarländern
Eine der grössten Gefahren sind laut dem polnischen Journalisten Witold Jurasz (46) die vielen Russen, die schon in den Nachbarländern leben. Jurasz, der früher Diplomat war und heute beim Nachrichtenportal onet.pl als diplomatischer Korrespondent arbeitet, sagt zu Blick: «Russland könnte versuchen, in grossen Städten in Estland und Lettland mit einer grossen russischsprachigen Minderheit Unruhen auszulösen.»
Das sieht auch der ukrainische Botschafter in Bern, Artem Rybtschenko (38), so. «Der Kreml versucht in Ländern wie der Ukraine oder auch den baltischen Staaten möglichst viele eigene Staatsbürger zu haben. Die können nicht nur für Unruhe sorgen, sondern bei einem Einmarsch auch unterstützend wirken.» Rybtschenko sagt: «Der Feind ist schon seit 2014 in der Ukraine!»
Krieg wegen Fehlinterpretationen
Abgesehen von der wirtschaftlichen und politischen Destabilisierung befürchtet der Schweizer Alexander Hug (49), der beim Krim-Konflikt 2014 Stellvertretender Leiter der OSZE-Sonderbeobachtermission in der Ostukraine war, auch kriegerische Handlungen, die durch unbeabsichtigte oder absichtliche Fehlinterpretationen von Vorfällen entstehen könnten.
Deshalb ist für Hug klar: «Der fortgesetzte Dialog zwischen allen beteiligten Parteien ist ebenso wichtig wie die Bemühungen um eine unabhängige Überwachung und Überprüfung der Lage.»