Vor 20 Jahren war James Dobbins (79) der erste US-Botschafter in Afghanistan nach der Nato-Invasion. Später agierte er als Berater verschiedener Präsidenten, unter anderem auch von Joe Biden (78) als Teil einer vom US-Kongress eingesetzten «Afghanistan Study Group». «Tages-Anzeiger» erzählte der Diplomat nun, dass er Bidens Entscheid, die Truppen abzuziehen, bedauere. Wenigstens 2000 Soldaten hätte man noch dort lassen sollen, um das Land zu stabilisieren.
Der Präsident aber habe seine Entscheidung «gegen die Mehrheit seiner Berater aus dem Militär und dem Geheimdienst getroffen». Biden sei zum Schluss gekommen, dass der Terrorismus nicht mehr nur in Afghanistan, sondern in vielen Ländern gegenwärtig und das US-Engagement in keinem Verhältnis mehr zur Gefahr gestanden sei.
«Keiner wird uns bei Interventionen mehr vertrauen»
Damit habe er zwar recht, meint Dobbins, doch mit dem Entscheid, alle Truppen abzuziehen, habe Biden zwei Fehler begangen. Einerseits habe der Ruf der USA als verlässlicher und glaubwürdiger Partner bei den Alliierten starken Schaden genommen. Afghanistan stehe so am Ende einer langen Kette gescheiterter US-Interventionen, die sich von Vietnam über Somalia bis zum Irak ziehe. «Keiner wird uns bei Interventionen mehr vertrauen», bilanziert Dobbins.
Es sei zwar richtig, dass es 20 Jahre lang keine Wiederholung von 9/11 gegeben habe. Aber die Bedrohung könne sich «innerhalb von zwei Jahren wieder formieren». Die Taliban hätten noch immer Beziehungen zu al-Quaida. «Sollte es zu einem Bürgerkrieg kommen und zu einem gescheiterten Staat, dann ist Afghanistan für jede extremistische Gruppe ein fruchtbarer Boden.»
Biden habe der afghanischen Führung nicht vertraut
Der zweite Fehler sei es gewesen, mit dem Abzug der moralischen Verpflichtung gegenüber dem afghanischen Volk nicht nachgekommen zu sein. Das Land habe grosse Fortschritte gemacht, was Menschenrechte, Frauenrechte, Pressefreiheit betreffe.
Diese Freiheiten seien für Biden aber keine Argumente gewesen. Er habe einfach der afghanischen Führung nicht vertraut. Das sei ein sehr persönlicher Entscheid gewesen, weder aus seiner Partei noch aus dem Volk habe es Druck gegeben. Dobbins zeigt sich wenig optimistisch, dass nun die gewonnenen Freiheiten bewahrt werden können.
Afghanistan wurde nie ernst genug genommen
Doch die grossen Fehler wurden schon vor der Ära Biden begangen, das macht Dobbins im Gespräch klar. So sei man nach der Invasion 2001 viel zu wenig ernsthaft an die Mission herangegangen. In Bosnien-Herzegowina etwa habe man 60’000 Nato-Soldaten postiert – bei 3,3 Millionen Einwohnern. In Afghanistan (33 Mio Einwohner) seien es nur 8000 gewesen. Auch im Kosovo habe man viel mehr finanzielle Mittel eingesetzt. Dort wie auch in Bosnien-Herzegowina herrsche heute Frieden.
Es sei aber so gewesen, dass George W. Bush (75) zuerst kein Interesse an «Nation Building» gehabt habe. Und als er dann seine Meinung änderte, habe er sich zuerst dem Irak zugewandt und für Afghanistan keine Zeit mehr gehabt. Barack Obama (60), von Dobbins als «Kriegsgegner» bezeichnet, habe zwar versucht, in Afghanistan zu kopieren, was Bush im Irak machte: den «Surge», den Versuch, mit einer Truppenaufstockung den Widerstand der Aufständischen zu brechen. Aber er habe das Projekt «nicht ernsthaft genug verfolgt».
«Ich trage eine Verantwortung dafür»
Dobbins nimmt im Interview auch sich selber in die Pflicht. Er habe sich nicht dafür eingesetzt, die Taliban stärker einzubinden, bedauert er – unter Tränen, wie es im Artikel heisst. Dabei hätten sie aus der Zeit vor 9/11 gewusst, dass die Taliban durchaus Interesse hatten, von der internationalen Gemeinschaft anerkannt zu werden. Aber: «Wir sahen die Taliban als eine besiegte, demoralisierte Gruppe, die kein Comeback erleben würde.»
Dobbins erinnert sich dabei an ein Treffen in Indien. Da habe ihn ein Diplomat vor den Taliban gewarnt und er habe erwidert: «Das ist wie mit den Nazis in Deutschland. Die kommen nicht zurück. Das war komplett falsch. Ich trage eine Verantwortung dafür, dass wir uns am Anfang nicht um die Teilhabe der Taliban bemühten.»
«Viele Taliban-Führer wollten verhandeln»
Dabei hätte es viele Möglichkeiten gegeben, die Taliban einzubinden. Ihr Führer, Mullah Omar, habe sogar seine Kapitulation angeboten, aber Afghanistans Präsident Karzai sei damals dagegen gewesen. «Viele Führer der Taliban signalisierten ihren Willen, die Waffen niederzulegen, aber statt darauf einzugehen, steckten wir sie in die Gefängnisse von Bagram und Guantánamo.»
20 Jahre lang habe er an Lösungen in Afghanistan gearbeitet. Bei Bush habe gegolten: Entscheiden, ohne zu beraten. Bei Obama: endloses Beraten, ohne zu entscheiden. Irgendwann habe Obama sich dann dazu durchgerungen, Afghanistan aufzugeben. Doch seine Berater hätten ihn dann noch einmal umgestimmt. Ein letztes Mal habe man versuchen wollen, Frieden in Afghanistan zu erreichen.
Dobbins lobt Trump
Für Trump hingegen findet der Ex-Diplomat überraschend positive Worte. «Unter Trump haben wir uns dann mit den Taliban zusammengesetzt. Das hätten wir vorher tun müssen.» Bei den Verhandlungen ging es jedoch auch um Eitelkeiten – nicht vonseiten Trumps, sondern von den Taliban.
Für ein Treffen in Pakistan – ein Friedensschluss lag in der Luft – hätten die Taliban gemäss Dobbins eine offizielle Vertretung in Katar verlangt. Die USA hätten unter der Bedingung zu gestimmt, dass sie dort die offizielle Flagge des Islamischen Emirats nicht hissen dürften. «Drei Tage vor direkten Verhandlungen eröffneten sie die Vertretung – und zwar mit der Flagge des Islamischen Emirats.» Ein Cousin des Emirs von Katar habe das Hissen der Flagge erlaubt, solange die US-Vertreter das nicht sehen würden, erzählt der Ex-Diplomat.
Doch auch die afghanische Seite sei nicht leicht zu handhaben gewesen. Hamid Karzai, der damalige afghanische Präsident, habe nicht auf Augenhöhe mit den Taliban verhandeln wollen. Er sei gegen alles gewesen, bei dem er nicht die dominante Figur war. (vof)