Die Lage in Afghanistan bleibt unübersichtlich. Nach dem Sturz der afghanischen Regierung am Sonntag mit dem Einmarsch der Taliban in Kabul ging zwar ein Blitzfeldzug zu Ende, bei dem wenig Blut floss. Den Taliban bot sich kaum Widerstand. Provinzgouverneure ergaben sich der Reihe nach, auch keine der berüchtigten afghanischen Kriegsfürsten stellten sich den Taliban in den Weg. Doch in verschiedenen eroberten Städten brodelt bereits Volkszorn.
Seit ein paar Tagen an der Macht, herrscht im Land faktisch noch immer Krieg. Weder wurde ein Waffenstillstand ausgerufen noch ein Friedensabkommen unterzeichnet. Afghanistan hat keine Regierung. Wann die Taliban die islamischen Emirate Afghanistans ausrufen und eine Regierung bilden, bleibt unklar. «Gebt uns Zeit», bat Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid am Dienstag Medien und die Welt. Zeit ist gegenwärtig nicht auf der Seite der Taliban. Während sie versuchen, ihre Macht zu konsolidieren, kommt es im Land zu erstem Widerstand gegen die neuen alten Machthaber.
«Wir wollen nicht mehr, dass Afghanistan ein Schlachtfeld ist», so Mudschahid. «Der Krieg ist vorbei.» Neueste Entwicklungen im Land jedoch zeigen, dass die Taliban keinesfalls überall willkommen geheissen werden.
Volkszorn gegen die neuen Regenten
Am Mittwoch gab es in mindestens zwei afghanischen Städten erste Strassenproteste gegen die Machtübernahme der Islamisten. Eine Demonstration im nordöstlichen Dschalalabad, das auf halber Strecke von Kabul ins pakistanische Peschawar liegt, wurde von Taliban-Kämpfern mit Gewalt niedergeschlagen. Dschalalabad ist ein wichtiges Handelszentrum. Auf dem Landweg von Peschawar über die Stadt läuft die Hauptversorgung Kabuls. Jetzt ist die Route blockiert.
Trotz der Gefahren marschierten Hunderte von Demonstranten durch die Haupteinkaufsstrasse von Dschalalabad. Sie schwenkten Fahnen der afghanischen Republik, pfiffen und skandierten Rufe gegen die Taliban, wie die «New York Times» berichtet. Taliban-Kämpfer schossen in die Luft, doch die Demonstranten liessen sich nicht vertreiben. Mindestens drei Personen wurden getötet und sechs Personen schwer verletzt. Ein Mann riss die Fahne der Taliban herunter und hisste an ihrer Stelle die Flagge der Republik. Darauf eröffneten die Taliban das Feuer.
Auch in Chost im Südosten Afghanistans, ebenfalls einer wichtigen Handelsstadt nahe Pakistan, kam es zu Protesten. Hunderte von Menschen gingen auf die Strasse. Gewinnen die Taliban die Bevölkerung nicht auf ihre Seite, droht dem Land neuer Bürgerkrieg. Neben diesen ersten Protesten wurde im nördlichen Tachar eine Frau von Taliban erschossen, die keine Burka trug. Auch Bilder, wie bärtige Taliban am Flughafen von Kabul mit Eisenketten und Schlagstöcken auf Menschen einschlagen, die aus dem Land zu fliehen versuchen, untergraben Bemühungen der neuen Machthaber, sich als verantwortungsvolle neue Herrscher zu geben.
Islamische Gelehrte entscheiden über Rechte von Frauen
Schon am Dienstag hatten auch ein paar mutige Frauen in Kabul für ihre Rechte demonstriert – am helllichten Tag, unter den Augen von bewaffneten Taliban, die die Frauen gewähren liessen. Noch ist unklar, welche Freiheiten Frauen unter der Scharia der Taliban verlieren.
Die Rechte von Frauen im Afghanistan der Taliban sollen nicht von der neuen Regierung, sondern von islamischen Gelehrten entschieden werden. Dies sagte ein ranghoher Taliban-Führer der Nachrichtenagentur Reuters. Die Rolle der Frauen in Afghanistan, ihr Recht auf Arbeit und Bildung sowie die Frage, wie sie sich zu kleiden haben, das werde letztlich von einem Rat islamischer Gelehrter entschieden.
«Unsere Ulema (Gelehrten, Anm. der Redaktion) werden entscheiden, ob Mädchen zur Schule gehen dürfen oder nicht», so der ranghohe Taliban-Kommandeur Waheedullah Hashimi. «Sie werden entscheiden, ob Frauen einen Hidschab, eine Burka oder nur einen Schleier und eine Abaya (langes Überkleid, Anm. der Redaktion) oder etwas anderes tragen sollen oder nicht.» (kes)