Die Machtübernahme der Taliban erfolgte nicht aus heiterem Himmel. Der Blitzfeldzug war von langer Hand geplant. Noch am 9. Juli besuchte eine hohe Taliban-Delegation Moskau, um den Russen zu versichern, dass die schnellen Eroberungen der Taliban in Afghanistan keine Bedrohung für Russland oder seine Verbündeten in Zentralasien darstellen. Ende Juli besuchten die Taliban-Unterhändler mit der gleichen Mission Peking. Die Welt ahnte nicht, was sich anbahnt. Jetzt sind die Taliban an der Macht - und versuchen Befürchtungen zu beschwichtigen, dass in Kabul wieder Terror einkehren könnte, der Afghanistan zur Hölle macht.
Peking und Moskau stehen mit den Taliban bereits in Kontakt, ihre Botschaften in Kabul sind offen. Auch die EU signalisierte am Dienstag: «Die Taliban haben den Krieg gewonnen, also werden wir mit ihnen sprechen müssen», so der EU-Aussenbeauftragten Josep Borrell (74).
Mehr über die Taliban
Um mit der Welt schnellstmöglich einen Dialog zu beginnen, waren die Taliban bei ihrem ersten Auftritt vor den Weltmedien am Dienstag bemüht, den Eindruck zu erwecken, dass sie kein dunkles Zeitalter zurückbringen. Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid gab sich bei der ersten Pressekonferenz der Gotteskrieger seit dem Fall von Kabul geradezu soft. Dass die Taliban mit ihrer Steinzeit-Ideologie ein Synonym für Brutalität sind, solche Ängste versuchte Mudschahid gezielt zu zerstreuen.
Amnestie
Mudschahid war bis gestern mehr Mythos als öffentliche Figur. 20 Jahre lang hielt sich der Taliban im Untergrund auf, kämpfte gegen die Ungläubigen und Ausländer. Mudschahid setzte über die Jahre eifrig Tweets als «@Zabehulah_M33» ab. Über 310'000 Follower hat er. Sein Gesicht blieb verborgen. Bis jetzt.
Wohl zwei Dutzend Mikrofone liegen vor ihm ausgebreitet, Kameras und Scheinwerfer sind auf ihn gerichtet. Im Ton des netten Onkels von nebenan versichert der Karrierekrieger, das Islamische Emirat von Afghanistan hege keinen Groll gegen irgendjemanden: «Wir haben all denen verziehen, die gegen uns gekämpft haben. Die Feindseligkeiten haben ein Ende. » Die Taliban würden sich auch nicht länger mit Opiumhandel finanzieren. Die Staatengemeinschaft solle Afghanistan beim Anbau von alternativen Nutzpflanzen helfen.
Wie ein Fanatiker wirkt Mudschahid nicht. Übersetzer, Mitarbeiter ausländischer Staaten und Kollaborateure, sagt er, die Taliban würden niemanden jagen. Es gebe keine Rache gegen sie. Sie würden begnadigt. Man habe auch eine Amnestie für alle Soldaten der gegnerischen afghanischen Armee erlassen. Man reiche allen Kräften die Hand, sagt Mudschahid: «Alle werden einen Anteil an der neuen Regierung haben.» Auch von Hausdurchsuchungen seiner Krieger will er nichts wissen. Kämpfer dürften private Häuser nicht betreten. Die Taliban würden derzeit Waffen einsammeln. Mudschahid warnt, insbesondere gegen Plünderer werde hart vorgegangen.
Rechte von Frauen: ja, aber...
Auch zum Thema Frauen ist Mudschahid gut vorbereitet und zeigt sich von der weichen Seite. Doch sagt wohl nur die halbe Wahrheit. Frauen würden Rechte zugesichert - wohlgemerkt unter dem strikten islamischen Scharia-Recht, das von den Taliban noch strikter ausgelegt wird als in der konservativsten islamischen Welt.
Unter den alten Taliban, die bis 2001 an der Macht waren, war es Frauen verboten, das Haus ohne einen erwachsenen männlichen Verwandten allein zu verlassen, geschweige denn zu arbeiten, zur Schule zu gehen oder eine Ausbildung zu machen.
Mudschahid versichert, dass Frauen nicht wieder zu Menschen zweiter Klasse werden sollen: «Es wird keine Diskriminierung von Frauen geben, sie werden mit uns leben», gibt sich Mudschahid gnädig. Frauen hätten im Afghanistan der Taliban das Recht, unter anderem an Bildung und am Gesundheitswesen teilzuhaben. Was genau das heisst und ob es letztlich nicht leere Versprechen sind, um die Weltöffentlichkeit für eine Weile zu beruhigen, bleibt offen.
«Gebt uns Zeit», bitten Taliban
CNN berichtet: Weil die Taliban Afghanistan im Sturm nahmen, hätten viele Frauen gar keine Zeit gehabt, eine Burka zu kaufen. Denn die Taliban schreiben vor, dass Frauen verschleiert und von einem männlichen Verwandten begleitet sein müssen, wenn sie das Haus verlassen.
Dass das Leben unter den Taliban doch anders aussehen könnte als an der überraschenden Medienkonferenz verkündet, zeigt unter anderem diese Meldung. Eine Mutter von vier Kindern wurde am 12. Juli Medienberichten zufolge von den Taliban zu Tode geprügelt, weil sie nicht für eine Gruppe von Kämpfern kochte. Ihre Mutter sei zu arm gewesen, erzählte die 25-jährige Tochter danach. Wie habe sie für die Krieger kochen können?
Mudschahid bleibt vage, was die Rechte und Zukunft von Frauen in den neuen afghanischen Emiraten anbelangt. «Gebt uns Zeit», bittet der Taliban-Sprecher die Medien und Weltgemeinschaft. Dabei ist ja auch auffällig, dass bei der gut besuchten Pressekonferenz keine einzige Frau im Saal war.