Als die Taliban vor wenigen Tagen Kabul eroberten, machte sich der afghanische Präsident Aschraf Ghani (72) mit einem Helikopter voller Bargeld aus dem Staub. Sein Vize aber, Amrullah Saleh (48), leistet mutig Widerstand.
Offenbar hat er sich im letzten verbliebenen Rückzugsort des Landes verschanzt: im Pandschir-Tal nordöstlich von Kabul. Auf Twitter schrieb er am Sonntag: «Ich werde die Millionen, die mir zugehört haben, nicht enttäuschen. Ich werde nie unter einer Decke mit den Taliban stecken. NIEMALS.»
Einen Tag später wurden in den sozialen Medien Bilder gepostet, die den abgesetzten Vizepräsidenten mit dem Sohn des berühmten Anti-Taliban-Kämpfers Ahmed Schah Massoud (1953–2001) im gebirgigen Tal am Hindukusch zeigten. Hier war der als Nationalheld verehrte Massoud geboren worden.
Die beiden bauen eine Guerillabewegung auf, mit der sie die Taliban bekämpfen wollen. Auch ehemalige tadschikische Soldaten der afghanischen Armee sind zur Unterstützung des Widerstands mit Panzern und Mannschaftswagen im Tal eingetroffen.
Tal noch nie erobert
Das schwer zugängliche Tal, das für seine natürlichen Verteidigungsanlagen bekannt ist, fiel während des Bürgerkriegs in den 1990er-Jahren nie in die Hände der Taliban und war auch ein Jahrzehnt zuvor nicht von den Sowjets erobert worden. Es ist flächenmässig zweimal so gross wie der Kanton Zürich.
Die Taliban haben offenbar das Tal umzingelt, greifen es aber nicht an. «Wir werden nicht zulassen, dass die Taliban in Pandschir einmarschieren, und wir werden uns mit aller Kraft dagegen wehren und sie bekämpfen», sagte ein Einwohner gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.
Erbitterter Taliban-Gegner
Eine solche Schlacht wäre die letzte in Salehs langem Kampf gegen die Taliban. Saleh kämpfte in den 1990er-Jahren zunächst an der Seite des Guerillakommandanten Massoud gegen die Sowjets und die Taliban. Anschliessend diente er in dessen Regierung, bevor er nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban im Jahr 1996 aus der Stadt floh.
Als die Islamisten dann seine Schwester folterten, um ihn zur Strecke zu bringen, stieg seine Wut auf die Taliban ins Unendliche. In einem Leitartikel des «Time Magazine» schrieb er: «Meine Sicht auf die Taliban hat sich durch die Ereignisse von 1996 für immer verändert.»
Das Drama von Afghanistan
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York wurde Saleh zu einem der wichtigsten Mitarbeiter der CIA. Diese Beziehung ebnete ihm den Weg für die Leitung des neu gegründeten afghanischen Geheimdienstes, des National Security Directorate (NDS), im Jahr 2004.
Als NDS-Chef soll Saleh ein umfangreiches Netzwerk von Informanten und Spionen innerhalb der Aufständischen und jenseits der Grenze in Pakistan aufgebaut haben. Die von Saleh gesammelten Informationen lieferten Beweise dafür, dass das pakistanische Militär die Taliban weiterhin unterstützte.
Mehrere Anschläge auf den Vize
Nachdem er 2018 kurz Innenminister war, wurde er zum Vizepräsidenten ernannt. Immer wieder versuchten die Taliban, ihn zu töten. Der letzte Anschlag auf ihn erfolgte im September vergangenen Jahres, als eine Bombe, die auf seinen Konvoi in Kabul zielte, mindestens zehn Menschen tötete.
Der ehemalige Vize bezeichnet sich auf Twitter nach der Flucht Ghanis als der aktuell rechtmässige Präsident. Und er ist zu allem bereit: «Im Gegensatz zu den USA/Nato haben wir den Mut nicht verloren und sehen enorme Möglichkeiten vor uns. Nutzlose Vorbehalte sind überflüssig. Schliesst euch dem Widerstand an.» (gf)