Seit bald fünf Monaten führt Kreml-Chef Wladimir Putin (69) in der Ukraine Krieg. Zu Beginn hatte er noch damit gerechnet, innert weniger Tage das Land zu erobern. Fehlanzeige! Aus dem erhofften Blitzkrieg wurde ein Stellungskrieg: Während es der Ukraine gelingt, viele ihrer Positionen zu halten, ist Putins Armee stark angeschlagen.
Meldungen von Nachschubproblemen und zunehmend fehlender Motivation der russischen Soldaten brechen nicht ab. Russische Militär-Experten sind enttäuscht und wütend auf Putin und den Kriegsverlauf, wie eine Analyse der renommierten US-Denkfabrik «Institute for the Study of War» (ISW) zeigt.
Der prominenteste Kritiker ist dem ISW-Bericht zufolge der ehemalige russische Militärkommandant Igor Girkin (51). Er war offiziellen Angaben zufolge bis 2013 als Reserveoberst des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB tätig. Nach Angaben von Quellen aus der Europäischen Union könnte es sich beim Ex-Kommandanten zudem um einen Angehörigen des Militärnachrichtendienstes GRU handeln. Auch bei der Annexion der Halbinsel Krim habe Girkin bereits eine zentrale Rolle gespielt.
Die totale Mobilmachung gefordert
Wie enttäuscht Girkin vom Kreml-Machthaber und seiner militärischen Vorgehensweise ist, zeigt seine umfangreiche Liste an Massnahmen, die seiner Meinung nach jetzt ergriffen werden müssen, damit die Russen den Krieg noch gewinnen können.
Der Donezker Ex-Militärchef fordert von Putin eine Total-Mobilmachung: Russlands Kriegsziele sollen ausgeweitet und der Staat voll und ganz für den Krieg mobilisiert werden, so sein Bericht.
Zudem solle man sich von der Rhetorik der «Spezialoperation», die Bezeichnung des Kremls für den Krieg, verabschieden. Stattdessen solle man die Wirtschaft komplett auf den Kriegszustand umstellen. Auch Methoden wie der «Zwangsrekrutierung» und der «Aussetzung der Rechte der Russen» wären für den Ex-Militär kein Tabu.
Putin mit Napoleon verglichen
Ex-Militär Girkin kritisiert weiter Putins territoriale Ziele, die ihm zu wenig ambitiös sind. Für Girkin sollten die Bestrebungen für Gebietseroberungen bei weitem über den Donbass hinausgehen.
Der Einschätzung des «ISW» zufolge ist es jedoch unwahrscheinlich, dass Putin auf Girkins Forderungen eingehen wird. Denkbar wäre, dass der Kreml-Chef zuerst die Reaktionen aus der russischen Bevölkerung abwartet und dann handelt. Bisher stiess die Kritik des Ex-Militärs nämlich beim Machthaber stets auf taube Ohren.
Es ist nicht das erste Mal, dass Girkin Putins zögerliches Handeln kritisiert. Erst kürzlich stellte er den Kremlchef öffentlich bloss, indem er ihn mit Napoleon (1769–1821) verglich.
Denn: Statt proaktiv zu handeln, warte man im Kreml viel lieber – und vergeblich – auf ein Waffenstillstandsangebot, so Girkin. «Genau wie Napoleon 1812, der – statt der Lage nach angemessen zu handeln – hoffnungslos und trübselig auf Unterhändler aus St. Petersburg wartete.»
Kreml soll Krieg absichtlich in die Länge ziehen
Während Girkin den Kreml in seinem Beitrag vom 19. Juli aufs Schärfste kritisiert, sind andere russische Militärblogger nicht so fordernd. Aber auch sie sind vom Verlauf des Krieges enttäuscht.
Die Experten deuten darauf hin, dass der Kreml den Krieg absichtlich in die Länge ziehe. So unterstellt der russische Militärblogger Juri Kotyenok Putin eine «Syrienisierung» des Kriegs, da Russland nie Fristen oder Ziele für seine Invasion formuliert habe.
Der Begriff ist eine Anspielung auf den Syrienkrieg, bei dem sich der Kreml ebenfalls Zeit gelassen habe. Und zwar um den Eindruck zu erwecken, dass das russische Militär mit Bedacht in der Ukraine vorgehe, um das Land zu erobern und die eigenen Verluste gering zu halten. Der ISW-Analyse zufolge ist dies aber eher ein Versuch, den gescheiterten Blitzkrieg umzudeuten. Und zwar in die beste Möglichkeit, die Ukraine zu besiegen. (dzc)