Die russische Invasion hatte in den frühen Morgenstunden des vergangenen Donnerstags kaum begonnen, da hatten ihre Raketen bereits die wichtigsten Boden-Frühwarnsysteme und viele Flugabwehrsysteme der Ukraine zerstört. Eine Taktik, die die USA seit Ende des Kalten Kriegs gerne und erfolgreich nutzten, wie Justin Bronk vom britischen Think Thank Royal United Services Institut (Rusi) schreibt. Doch anders als die US-Amerikaner verzichteten die Russen darauf, anschliessend die ukrainische Luftwaffe mit ihren eigenen Fliegern auszuschalten.
Stattdessen wollten sie in den ersten 48 Stunden mit verhältnismässig wenig Mitteln so rasch wie möglich Kiew einnehmen und die Regierung auswechseln, wie Marcel Berni (33), Strategieexperte der Militärakademie an der ETH Zürich, zu Blick sagt. «Zudem wollten die Russen mit einem schnellen Fait accompli den Westen überraschen und so die Auswirkungen der Sanktionen auf die Kriegswirtschaft abbremsen und die jetzt eintreffenden westlichen Waffenlieferungen umgehen.»
Kein Benzin, schlechte Kommunikation
Der Plan scheiterte. Unter anderem weil die Ukrainer aus der Luft noch immer erbitterten Widerstand leisten können und regelmässig feindliche Helikopter und Bodentruppen abschiessen. Aber auch weil die russischen Truppen schlecht koordiniert waren. Verschiedene Experten berichten von Panzern, die von ihren Versorgungsfahrzeugen getrennt wurden und ohne Benzin irgendwo stehen blieben. Oder von Transportern, die nicht mehr von Luftabwehrsystemen geschützt wurden, weil diese im Stau steckenblieben und damit leichte Ziele waren.
Kommt hinzu, dass laut Berichten viele der derzeit verfügbaren russischen Flugzeuge weder über Zielgeräte noch präzisionsgelenkte Munition verfügen. Was es schwierig macht, die Bodentruppen zu unterstützen, ohne dabei die eigenen Ressourcen zu beschädigen. Jedenfalls so lange, bis Moskau die Genehmigung für eine ungelenkte Bombardierung erteilt und damit Kollateralschäden in Kauf genommen werden.
Guerilla-Krieg kündigt sich an
Doch darauf dürfte es hinauslaufen. Berni vermutet, dass es einen brutalen Abnützungskampf geben wird, nachdem der Blitzsieg ausgeblieben ist. Ein Zeichen dafür: ein 64 Kilometer langer Blech-Konvoi, der am Dienstag auf Satellitenbildern auftauchte und auf dem Weg Richtung Kiew ist. «Das dürfte vor allem dringend benötigter russischer Nachschub sein», sagt Berni. Sprich: Benzin, Nahrung, Munition, mehr Männer.
Russland dürfte damit laut diversen Beobachtern bald die nächste, wesentlich brutalere Phase des Krieges beginnen. Mit Guerilla-Kriegen und wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. So sieht das auch Berni: «Es verdichten sich die Hinweise, dass die brutalen tschetschenischen Kadyrowzy-Truppen für den Häuserkampf in der Ukraine abgestellt werden. Zudem dürften zurzeit frische, mitunter auch belarussische Kräfte aus dem Norden in Richtung Kiew mobil gemacht werden.»
Lauert die Gefahr für Putin in der Heimat?
Sein Fazit: Erst ein kleines Potenzial der russischen Möglichkeiten wurde bis anhin mobilisiert. «Viele im Westen unterschätzen im Moment die russische Militärmaschinerie.» So sei nicht nur die erwähnte russische Luftwaffe bisher kaum eingesetzt worden. Auch der Einsatz von typisch russischen taktischen Bataillonsgruppen sei bisher kaum erfolgt. Berni: «Was wir bisher gesehen haben, ist noch nicht der Grosskrieg, auf den sich die Russen vorbereitet haben.»
Die Gefahr lauere für Putin darum nicht primär in der Ukraine, sondern daheim: «Möglicherweise muss sich Putin aufgrund des innenpolitischen Dissens und des Informationskriegs zurückziehen.» Wie realistisch dieses Szenario ist, kann derzeit kein Experte sagen.