Islamisten übernehmen Macht in Syrien – in Idlib regieren sie schon lange
Scharia-Gesetze? «So ein Blödsinn!»

Nach dem Sturz des Assad-Regimes setzen die Menschen in Syrien ihre Hoffnung in die islamistische Rebellengruppe HTS. Sie will nun ganz Syrien regieren. Im Bezirk Idlib ist die HTS schon lange an der Macht. Ein Besuch vor Ort.
Publiziert: 15.12.2024 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 15.12.2024 um 11:59 Uhr
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Rami Jampus: «Die HTS bezahlt den Strom für unsere Firma.»
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Helena GrafReporterin

Nirgendwo in Syrien liegen alles und nichts so nah beisammen wie in Idlib. Zerbombte Häuser an einer Strasse. Daneben ein neues Einkaufszentrum. Polierte Töffs – frisch aus der Fabrik. Weiter hinten eine Siedlung aus Zelten. Hier passiert im Kleinen, was bald ganz Syrien erwarten könnte.

Seit 2017 ist die Provinz im Norden des Landes unter der Kontrolle der islamistische Haiat Tahrir al-Scham (HTS). Seit letzter Woche erhebt sie Anspruch auf ganz Syrien.

Idlib wuchs von zwei auf sieben Millionen Einwohner

Rami Jampus (35) serviert süssen Tee in goldenen Bechern auf einem goldenen Tablett. Wir sitzen im Büro seiner Autogarage – in einer Ecke steht ein Aquarium, im anderen ein vergoldeter Koran.

«Wir haben vor zehn Jahren mit wenigen Autos angefangen», erzählt Jampus. Seine Familie kommt aus Homs, einer Stadt auf halbem Weg Richtung Damaskus. Sie sind 2013 vor Assads Truppen geflüchtet – wie Millionen andere. Die Region Idlib zählte vor dem Bürgerkrieg etwa zwei Millionen Einwohner. Aktuell sind es sieben Millionen.

In den letzten Jahren wuchs Rami Jampus' Business rasant. Unter der lokalen Regierung der HTS zahlte er viel tiefere Steuern als in den von Assads Truppen kontrollierten Gebieten. Jampus erzählt: «Die HTS bezahlt den Strom für unsere Firma. So will sie die lokale Wirtschaft unterstützen.» Neu verkauft er auch Elektroautos. Der weisse BMW zum Beispiel, für 40'000 Dollar.

«Sie dürfen sich gerne umschauen. Aber wir haben nichts. Hier würden Sie nicht einmal zehn Lire finden», sagt Ayla Hamdan (75), als sie den Vorhang zu ihrem Zelt aufzieht. Seit sieben Jahren lebt sie hier. Den Ofen in ihrem Zelt beheizt sie mit Plastikverpackungen, die ihre Enkel auf der Strasse einsammeln. Ihr Essen kocht sie über offenem Feuer. «Die Bedingungen sind sehr schwierig. Ich habe drei Kinder durch die Bomben des Regimes verloren. Meine Söhne sind in Damaskus, sie haben die Stadt mit den Rebellen eingenommen und Gefangene befreit.»

Früher habe sie in einem schönen Haus gelebt. Doch die Vergangenheit vermisst sie nicht: «Im Dorf, wo wir lebten, haben Assads Truppen vier Mädchen mitgenommen. Sie kamen zurück und waren schwanger.»

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Im Gegensatz zu Rami Jampus' Garage erhalten Ayla Hamdan und ihre Familie keine finanzielle Unterstützung. Immerhin: «Wenn wir krank sind, behandeln sie uns im Spital, obwohl wir nicht bezahlen können», so die 75-Jährige.

Schweizer Hilfswerk

Die Menschen in den Camps sind abhängig von internationalen Organisationen. Das Schweizer Hilfswerk For Children Smile hat in Idlib ein Waisenhaus mitsamt Schule gebaut. «Ohne Hilfe von aussen hätten diese Kinder nichts», sagt Leiterin Emine Tas. 

In einer der Hütten auf dem Heimareal wohnt Dalal Darwish (43) mit ihren Kindern. Ihr Mann ist im Krieg gestorben. «Uns fehlt es am Nötigsten. Manchmal haben wir nicht genug zu essen. Ständig sind wir krank», erzählt sie.

Um sie herum blüht die Wirtschaft: neue Quartiere für Händler entstehen, Einkaufszentren öffnen ihre Türen. Doch Dalal Darwish will nicht klagen: «Was Allah will, geschieht», sagt sie nur.

In den USA und der EU gilt HTS als Terrororganisation

Ayla Hadman bezeichnet HTS-Rebellenführer und Idlib-Vorsteher Abu Mohammed al-Dschulani als Volkshelden – finanzielle Hilfe hin oder her. «Allah kommt zuerst, dann Dschulani», ruft sie. Nun führt der Rebellenführer die neuen syrischen Machthaber in Damaskus an.

In den USA und der EU gilt die HTS als Terrororganisation. Als sie vor acht Jahren die Macht in der Region übernahm, flohen Angehörige der christlichen Minderheit ins Ausland oder in von Assad kontrollierte Gebiete. In ihren Häusern richteten sich neue Familien ein. Menschenrechtsorganisationen sprachen von Zwangsenteignung.

Mohanned Dallah (33) wehrt sich gegen diese Darstellung: «Millionen Menschen sind innerhalb Syriens geflüchtet, kamen in verlassenen Wohnungen unter. Mit Religion hat das nichts zu tun.»

Seit Jahren versucht HTS-Anführer Dschulani, das Image der Rebellen als islamistische Extremisten loszuwerden. Er verspricht, die Minderheiten zu schützen und ein freies Syrien anzustreben.

«Immer wieder hören wir die Behauptung, hier herrschten Extremisten, hier würden Scharia-Gesetze gelten. Das ist Blödsinn. Wenn du stiehlst, wird dir keine Hand abgehackt. Du kommst höchstens in den Knast», sagt Mohanned Dallah.

«Unter der HTS leben wir freier»

Manche Frauen tragen kein Kopftuch. Etwa Mathilda, die an der Universität Kunst studiert. «Unter der HTS leben wir freier. Zum Beispiel können wir Tiktok und Instagram nutzen. Unter Assad waren diese Seiten gesperrt.»

Ein Grossteil der Quartiere ausserhalb der Stadt Idlib liegt in Trümmern. Sie wurde vor Jahren zerbombt und geplündert. Niemand hat versucht, sie wieder aufzubauen. Im ganzen Land gibt es unzählige solcher Ruinen. «Unsere Hoffnung ist, dass wir beim Wiederaufbau vom Ausland unterstützt werden», sagt Mohanned Dallah. Er selbst hat seine Wohnung in Idlib vor zehn Tagen verloren. Durch eine russische Bombe. 

In der Euphorie des Sieges gegen Assad steht das syrische Volk hinter Dschuliani – Frauen, Männer, Arm und Reich. Alles oder nichts, Jubel oder Enttäuschung – die nächsten Monate werden es zeigen.

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