Auf einen Blick
- Islamistische Kämpfer haben nach den syrischen Grossstädten Aleppo und Homs auch Damaskus erobert
- Der gestürzte Machthaber Bashar al-Assad ist laut Berichten mit seiner Familie nach Moskau geflohen
- In Damaskus kam es zu Feuergefechten und zahlreiche Soldaten des Regimes haben kapituliert
Der 8. Dezember markiert das Ende der Ära der Unterdrückung
Österreich und Deutschland setzen Asylanträge aus Syrien vorerst aus
Machtwechsel in Syrien – das musst du wissen
- Syrische Rebellen haben unter der Führung der Islamistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) Damaskus eingenommen und das Regime gestürzt. Was nun auf Syrien zukommen könnte, liest du hier
- HTS-Anführer ist Abu Mohammed al-Dschulani, mehr zu ihm findest du hier
- Laut der russischen Nachrichtenagentur Tass soll Assad mittlerweile in Moskau angekommen sein. Alles zu Assad findest du in diesem Artikel
- Millionen von Vertriebenen könnten nach Syrien zurückkehren. Was der Machtwechsel für sie bedeutet, findest du hier
- Welche Gruppen in Syrien nun um die Macht kämpfen, erfährst du hier
Ausgangssperre wird aufgehoben
Die nach dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assads verhängte Ausgangssperre in der syrischen Hauptstadt Damaskus soll aufgehoben werden.
Der Anführer der führenden Rebellengruppe Haiat Tahrir al-Sham (HTS), Ahmed al-Scharaa, teilte auf Telegram mit, die Menschen seien aufgefordert, ihrer Arbeit wieder nachzugehen, um beim Wiederaufbau des neuen Syriens zu helfen.
Nach dem Sturz Assads am Sonntag hatten die Aufständischen für die Abend- und Nachtstunden eine Ausgangssperre verhängt. In Damaskus ist Augenzeugen zufolge langsam wieder ein bisschen Alltag eingekehrt. Geschäfte seien wieder geöffnet, berichtete ein dpa-Reporter vor Ort. Es seien nur noch wenige bewaffnete Kämpfer in der Stadt zu sehen.
HTS-Anführer: Keine Gnade für Folterer
Al-Scharaa, der zuvor unter seinen Kampfnamen Abu Mohammed al-Dschulani auftrat, forderte andere Staaten zudem auf, geflohene «Kriminelle» nach Syrien auszuliefern. «Diejenigen, die an Folter und Tötung von Gefangenen beteiligt waren, werden nicht begnadigt», erklärte Al Sharaa.
Nach der Blitzoffensive der Aufständischen kamen Tausende Gefangene frei. Die meisten von ihnen wurden jahrelang systematisch gefoltert. Allein in dem berüchtigtem Militärgefängnis Saidnaja nördlich von Damaskus wurden während der Herrschaft von Assad nach Angaben von Aktivisten täglich bis zu 100 Menschen hingerichtet und dann in Öfen verbrannt.
Respekt für alle Religionsgruppen
Die von der islamistischen HTS-Miliz geführte Übergangsregierung in Syrien will laut ihrem Chef Mohammed al-Baschir die Rechte aller religiösen Gruppen garantieren. «Gerade weil wir islamisch sind, werden wir die Rechte aller Menschen und aller Glaubensrichtungen in Syrien garantieren», sagte al-Baschir am Mittwoch in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung «Corriere della Sera». Zugleich rief er die Millionen geflüchteter Syrer im Ausland dazu auf, in ihre Heimat zurückzukehren.
Grab von Hafis al-Assad in Brand gesteckt
Das Grab des früheren syrischen Präsidenten Hafis al-Assad (1930–2000) in seinem Heimatdorf Qardaha wurde Berichten zufolge in Brand gesteckt. AFP-Fotos vom Mittwoch zeigen das beschädigte Mausoleum in der alawitischen Region Latakia in Syrien sowie den brennenden Sarg, in dem die sterblichen Überreste des einstigen Diktators lagen.
Laut der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte haben Rebellenkämpfer das Feuer gelegt. Hafis al-Assad regierte Syrien fast drei Jahrzehnte lang bis zu seinem Tod. Danach übernahm sein Sohn, Baschar al-Assad (59), die Macht.
Lage schien aussichtslos: So drängte Putin Assad zur Flucht
Während die Armee vom ehemaligen syrischen Machthaber Bashar al-Assad dahin schmolz, lag das Schicksal des Diktators in Moskaus Händen. Als Kreml-Chef Wladimir Putin (72) klar wurde, dass sich Assad nicht mehr länger an der Spitze Syriens halten kann, bewegte er seinen Verbündeten zur Flucht. Putin bot Assad und seiner Familie einen sicheren Zufluchtsort an, wenn er «sofort flüchten» würde, berichtet «Bloomberg». Das Medium bezieht sich auf drei mit den Geschehnissen vertrauten Quellen.
Russische Geheimdienstbeamten organisierten demnach Assads Flucht. Assad wurde über eine russische Militärbasis ausgeflogen. Anschliessend wurde der Transponder der Maschine ausgeschaltet, um die Flucht zu ermöglichen, heisst es im Bericht. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat sich bis anhin noch nicht zu der Flucht Assads geäussert.
«Das war Schadensbegrenzung», sagte Ruslan Pukhov, Chef des in Moskau ansässigen Zentrums für die Analyse von Strategien und Technologien.
Mögliche Öl-Ressourcen gesichert
Den Rebellen ist es gelungen, die wichtige Stadt Dair as-Saur im Nordosten Syriens zu erobern und sich so einen möglichen Zugang zu den Öl-Ressourcen zu sichern. «Dair as-Saur und der Militärflughafen sind vollständig befreit», erklärte ein Kommandeur der Islamistengruppe HTS.
Die Stadt, die bisher von mit den USA verbündeten Kurdenmilizen kontrolliert wurde, liegt am Strom Euphrat und an zentralen Verkehrs- und Versorgungsrouten.
Waffenruhe im Norden Syriens
Die von den USA unterstützte Kurdenmiliz Syrische Demokratische Kräfte (SDF) zieht sich aus der nordsyrischen Stadt Manbidsch zurück. Dies geschieht im Rahmen einer Waffenruhe. Laut SDF-Kommandeur Maslum Abdi (57) dient die Vereinbarung dem Schutz der Zivilbevölkerung.
Manbidsch ist wichtig für die Türkei
Zuvor hatte die von der Türkei unterstützte Syrische Nationale Armee (SNA) nach schweren Gefechten die Kontrolle über die Stadt übernommen, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte bestätigte.
Manbidsch ist wichtig für die Türkei für ihre Ziele in Syrien. Es war die letzte Stadt westlich des Euphrat, die von den Kurdenmilizen kontrolliert wurde. Die Türkei will die Kurden nun weiter nach Osten drängen, möglicherweise für einen weiteren Vormarsch der protürkischen Gruppen bis zur syrisch-kurdischen Grenzstadt Kobane.
Wohin sind die Assad-Vertrauten geflohen?
Nach seinem Sturz floh der syrische Machthaber Bashar al-Assad nach Moskau, wo ihm Russland Asyl gewährt. Doch nicht nur der Tyrann selbst, sondern auch viele seiner Spitzenbeamten und Geheimdienstmitarbeiter mussten flüchten.
Einige von ihnen sollen sich in Luxushotels im Libanon verstecken. Andere haben das Ziel Deutschland. Mehr dazu liest du hier.
Appell von syrischem Regierungschef: «Kommen Sie zurück!»
Nach dem Umsturz in Syrien hat der neue Regierungschef Mohammed al-Baschir syrische Flüchtlinge weltweit zur Rückkehr in ihre Heimat aufgerufen.
«Syrien ist jetzt ein freies Land, das seinen Stolz und seine Würde wiedererlangt hat. Kommen Sie zurück!», sagte al-Baschir im Interview mit der italienischen Zeitung «Corriere della Sera».
Wichtige Rolle beim Wiederaufbau Syriens
Die Übergangsregierung, die bis März im Amt sein soll, will zunächst Sicherheit und Stabilität wiederherstellen. Al-Baschir betonte, Rückkehrer könnten mit ihrer Erfahrung eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau des Landes spielen.
«Das falsche Verhalten einiger islamistischer Gruppen hat dazu geführt, dass viele Menschen, vor allem im Westen, Muslime mit Terrorismus und den Islam mit Extremismus verbinden», sagte er. Dies sei jedoch eine falsche Darstellung. Al-Baschir versprach, die Rechte aller Menschen in Syrien zu garantieren.
Kritiker befürchten jedoch, dass die islamistische Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) einen zu grossen Einfluss auf Syrien ausüben könnte.
Distanzierung von Iran und Russland unklar
Al-Baschir betonte, seine Übergangsregierung habe «keine Probleme mit Staaten, Parteien oder Sekten, die sich von Assads blutrünstigem Regime distanziert haben». Ob dies bedeutet, dass er sich vom Iran, Russland und der Hisbollah distanziert, beantwortet er nicht.
Iran macht die USA und Israel für Umsturz verantwortlich
Irans Staatsoberhaupt Ayatollah Ali Chamenei (85) macht die USA und Israel für den Umsturz in Syrien verantwortlich. Dieser sei «das Ergebnis eines gemeinsamen amerikanisch-zionistischen Plans», erklärte er laut dem staatlichen Rundfunk in der iranischen Hauptstadt Teheran.
«Auch eine Nachbarregierung Syriens spielt eine Rolle», sagt Chamenei, wobei er offenbar die Türkei meint. Diese unterstützen im Norden Syriens militante Aufstände.
Erstes Treffen der Übergangsregierung in Damaskus
Nach dem Sturz von syrischen Machthabers Bashar al-Assad hat die syrische Übergangsregierung ihre Arbeit aufgenommen. Das Kabinett, unter der Führung von Mohammed al-Baschir, kam am Dienstag zur ersten Sitzung zusammen.
«Eine grosse Herausforderung»
An dem Treffen nahmen der bisher amtierende Ministerpräsident Mohammed al-Dschalali, weitere Minister sowie Mohammed al-Baschir teil, der das Übergangskabinett künftig als Ministerpräsident führen soll.
Al-Baschir, ehemals Regierungschef in von Rebellen kontrollierten Gebieten, bezeichnete die Aufgabe laut Medienberichten als «grosse Herausforderung». Die Übergangsregierung soll das Land bis März verwalten, «bis die Verfassungsfragen» geklärt sind.
Dschihadistische Kämpfer in Syrien haben bei ihrem Vorrücken im Nordwesten des Landes Aktivistenangaben zufolge grosse Teile der Stadt Aleppo erobert. «Die Hälfte der Stadt Aleppo ist jetzt unter der Kontrolle von Hajat Tahrir al-Scham und verbündeten Gruppen», sagt der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, der Nachrichtenagentur AFP. Die syrischen Regierungstruppen leisteten demnach keinen wesentlichen Widerstand. Ein AFP-Reporter vor Ort berichtet von Kämpfen im Stadtteil Neu-Aleppo.
Nach dem Vormarsch der Islamisten wurden am Samstagmorgen nach Angaben der Beobachtungsstelle erstmals seit 2016 wieder russische Luftangriffe auf die Stadt durchgeführt. Der syrische Ableger des Terrornetzwerkes Al Kaida, Hajat Tahrir al-Scham (HTS), und verbündete Gruppen hatten am Mittwoch eine überraschende Grossoffensive gegen die Streitkräfte der syrischen Regierung gestartet – es sind die heftigsten Kämpfe seit dem Jahr 2020. Rahman zufolge drangen die Islamisten am Freitag in die Grossstadt Aleppo ein. Die Region war bisher grösstenteils von der Regierung kontrolliert worden.
Angriff auf Studentenwohnheim
Laut syrischen Medien wurde Aleppo auch erstmals seit vier Jahren von HTS bombardiert. Vier Zivilisten wurden demnach getötet, als die Dschihadisten ein Studentenwohnheim angriffen. Rahman zufolge erreichten die Kämpfer die Tore der Stadt, «nachdem sie zwei Selbstmordanschläge mit Autobomben verübt hatten».
Die Provinz Aleppo grenzt an Idlib, die letzte grosse Hochburg der Dschihadisten und Regierungsgegner in Syrien. HTS-Kämpfer kontrollieren grosse Teile von Idlib, aber auch angrenzende Gebiete in den Regionen Aleppo, Hama und Latakia.
Die syrische Regierung teilt mit, die Armee habe die Grossoffensive bewaffneter Terrorgruppen auf Aleppo abgewehrt und mehrere Stellungen zurückerobert. Die Armee entsandte demnach Verstärkung in die zweitgrösste Stadt Syriens.
Bewohner in Angst
Die syrischen Truppen werden vom Verbündeten Russland unterstützt. Die russische Luftwaffe bombardiere «Ausrüstung und Personal illegaler bewaffneter Gruppen», zitieren russische Nachrichtenagenturen einen für Syrien zuständigen Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau. 200 Kämpfer seien bei den russischen Angriffen der vergangenen 24 Stunden getötet worden, erklärt er.
«Zum ersten Mal seit fast fünf Jahren hören wir ständig Raketen und Artilleriegranaten, manchmal auch Flugzeuge», sagt ein 51-jähriger Bewohner von Aleppo der AFP am Telefon. Die Menschen hätten Angst, «dass sich das Kriegsszenario wiederholt und wir gezwungen sein werden, aus unserer Heimat zu fliehen». Zwei Anwohner berichten von Kämpfern auf der Strasse und Panik.
Islamisten-Hochburg unter russischem Beschuss
Die Syrische Beobachtungsstelle meldet zudem 23 Luftangriffe syrischer und russischer Kriegsflieger auf die Islamisten-Hochburg Idlib. Die Beobachtungsstelle erklärt, die Dschihadisten hätten innerhalb der vergangenen Tage bereits mehr als 50 Dörfer und Städte in den Regionen Aleppo und Idlib im Norden und Nordwesten des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Am Freitag hätten sie die an einem Verkehrsknotenpunkt gelegene Stadt Sarakib eingenommen.
Nach Angaben der Beobachtungsstelle wurden seit Mittwoch mindestens 277 Menschen getötet, ein Grossteil von ihnen Kämpfer auf beiden Seiten, aber auch Zivilisten. Die Beobachtungsstelle mit Sitz in Grossbritannien bezieht ihre Informationen aus einem Netzwerk verschiedener Quellen in Syrien. Ihre Angaben sind von unabhängiger Seite nur schwer zu überprüfen.
Eine halbe Million Tote, Millionen Vertriebene
Im seit 2011 andauernden syrischen Bürgerkrieg wurden bisher eine halbe Million Menschen getötet und Millionen weitere vertrieben. Mit der Unterstützung ihrer Verbündeten Russland und Iran brachte die syrische Regierung 2015 weite Teile des Landes wieder unter ihre Kontrolle. Auch die Grossstadt Aleppo eroberte Machthaber Bashar al-Assad im Jahr 2016 mit Unterstützung der russischen Luftwaffe zurück.
Im Norden Syriens gilt seit 2020 ein von der Türkei und Russland vermittelter Waffenstillstand. Dieser wurde zwar immer wieder gebrochen, aber beruhigte die Region in den vergangenen Jahren weitgehend.