Kerim Sharif hat genug. «Die Kommunistische Partei setzt seit über 30 Jahren alle möglichen Mittel ein, um mich nach China zurückzuholen, meine Dienste als Spion zu kaufen oder mich zum Schweigen zu bringen.»
Sharif ist Uigure, 63 Jahre alt – und für sein Heimatland ein Verräter: Nach seiner Flucht aus der chinesischen Botschaft in Pakistan erhielt der Diplomat 1990 auf Vermittlung der Flüchtlingsbehörde der Vereinten Nationen UNHCR Asyl in der Schweiz. Als erster Uigure überhaupt. Mittlerweile hat er seit 15 Jahren den Schweizer Pass. Doch Chinas langer Arm greift noch immer nach ihm.
Deshalb hat sich Sharif entschieden, seine Erlebnisse öffentlich zu machen. Am Esstisch seiner Familie in einem Waadtländer Dorf berichtet er Blick von jahrelangem Telefonterror und davon, wie die chinesischen Behörden immer wieder versuchen, an ihn heranzukommen.
«Wäre ich darauf eingegangen, wäre ich spurlos verschwunden»
Er legt einen handgeschriebenen Brief auf den Tisch, unterzeichnet von einem «Freund, den Sie noch nie getroffen haben». Der Unbekannte schreibt: «Wir kümmern uns ständig um Sie.» Dann schlägt der «Freund» ein Treffen mit Sharifs Mutter in Hongkong vor, «bitte machen Sie sich keine Sorgen, wir garantieren Ihre absolute Sicherheit». Der Brief stammt aus dem Jahr 2001. Geantwortet hat Sharif nie. Denn er ist überzeugt: «Wäre ich darauf eingegangen, wäre ich spurlos verschwunden.»
Mehr zu den Uiguren
Es blieb nicht die einzige Einladung ins Ausland. Einmal reiste er tatsächlich nach Wien, um eine uigurische Freundin zu sehen. Doch er sei misstrauisch geblieben und deshalb ein paar Tage später eingetroffen. «An der Hotelrezeption sagte man mir, dass am vereinbarten Tag sechs chinesische Männer aufgetaucht seien.» Alles Zufall? Der Ex-Diplomat ist sicher: Man hatte ihm eine weitere Falle gestellt, um ihn nach China zurückzuholen. Beweisen kann er das nicht.
Kerim Sharif ist kein Einzelfall. Um öffentliche Kritik am Einparteienstaat zu verhindern, geht Pekings Kommunistische Partei im Ausland gezielt gegen Exilchinesen vor. Das trifft vor allem Dissidenten, Demokratieaktivistinnen aus Hongkong sowie Tibeter oder Uigurinnen. Für die Beeinflussung der Gegner ausserhalb ihres Machtbereichs unterhält die Volksrepublik im Ausland ein Netzwerk aus chinesischen Organisationen und Vereinen, die sogenannte Einheitsfront. Im vergangenen Jahr berichtete die Menschenrechtsorganisation Safeguard Defenders, China betreibe weltweit mehr als 100 illegale Polizeibüros, oftmals versteckt in Restaurants oder Kulturvereinen. Darunter viele in Europa, nicht aber in der Schweiz.
Bund will im Herbst Bericht vorlegen
Auch der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) berichtet seit Jahren vor zunehmender chinesischer Tätigkeit. Der Bundesrat hält seine Absichten derweil verborgen. Schon vor gut einem Jahr hätte er einen Bericht zur Situation der Tibeterinnen und Uiguren in der Schweiz vorlegen sollen, den der Nationalrat 2021 als Reaktion auf eine Petition der Gesellschaft für bedrohte Völker verlangt hatte. Doch das Papier lässt weiter auf sich warten. Zur Begründung führt der Bund den Mehraufwand an, der beim Staatssekretariat für Migration durch den Ukraine-Krieg entstanden sei. Im Herbst soll der Bericht nun vorliegen.
Nationalrat Nicolas Walder (57), Mitglied der Grünen Partei, der Aussenpolitischen Kommission und der Parlamentarischen Gruppe Tibet, findet die Verzögerung inakzeptabel. «Sie deutet darauf hin, dass die Situation möglicherweise besorgniserregender ist, als der Bundesrat uns bisher glauben machen wollte.»
Für den Bericht befragt wurde auch Kerim Sharif. Zuletzt erlebte er nach einem Auftritt in der RTS-Fernsehsendung «Temps présent», was die Volksrepublik von seinem Entscheid hält, offen zu berichten. An einem Sonntag im November fand Sharif in seinem Briefkasten drei Seiten: einen Screenshot aus der Sendung «Temps présent», eine China-Flagge und einen Auszug aus dem Handelsregister, auf dem Sharifs Name gelb markiert ist. Sein richtiger Name.
Denn Kerim Sharif heisst heute anders. Um sein Privatleben zu schützen, hat er einen Schweizer Namen angenommen. Die anonyme Nachricht ist für ihn deshalb ohne jeden Zweifel als Bedrohung gedacht: Wir wissen genau, wer du bist und wir wissen, wo du wohnst.
Die Einschüchterungstaktik wirkt
Sharif ist einer der wenigen Exilanten, die öffentlich Kritik an der Kommunistische Partei Chinas üben. Unter ihnen scheint die Angst vor dem Staat fast so gross zu sein wie die Wut über systematische Menschenrechtsverletzungen in Tibet oder der Uiguren-Provinz Xinjiang, in der Hunderttausende muslimischer Uiguren in Zwangslagern interniert sein sollen.
«Die hiesige Diaspora fühlt sich wegen der drohenden Repression oft ohnmächtig und schränkt sich aus Angst vor möglichen Folgen selber ein», sagt Selina Morell (34), Programmleiterin China bei der Gesellschaft für bedrohte Völker. Die Einschüchterung durch das Regime zeigt Wirkung, auch in der Schweiz. Sogar bei internen politischen Veranstaltungen seien die Teilnehmenden unsicher, was offen diskutiert werden könne, sagt Thomas Büchli, Präsident der Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft. «Es braucht oft gar keine Drohung oder Überwachung mehr. Allein die immer präsente Angst, dass die Kommunistische Partei alles sieht, bringt die Menschen zum Schweigen.»
Ohnmacht gegenüber einer Diktatur und zunehmende Selbstzensur – die Gesellschaft für bedrohte Völker sieht eine Mitverantwortung der Schweizer Politik. Selina Morell: «Die Schweiz macht es China einfach, indem die wirtschaftlichen Interessen immer dominanter werden und die Menschenrechte hintenanstehen.»
Sharif besitzt heute nicht nur den Schweizer Pass, er hat auch den grössten Teil seines Lebens in der Schweiz verbracht. In der neuen Heimat hat er seine Frau kennengelernt, hier sieht er seine Tochter aufwachsen. Geht er irgendwann nach Xinjiang zurück? Vielleicht, sagt Sharif, aber nicht, um dort zu leben. «Die Schweiz hat mein Leben gerettet, als sie mir politisches Asyl gewährte. Das ist jetzt mein Zuhause.» Einen Wunsch aber nennt er doch: Er möchte noch einmal mit seiner Mutter telefonieren dürfen, zu der er vor vielen Jahren den Kontakt abgebrochen hat, um sie zu schützen.
Die chinesische Botschaft in Bern hat auf eine Anfrage von Blick zu den Vorwürfen nicht reagiert.