«Die chinesische Regierung will uns Uiguren auslöschen.» Andili Memetkerim (55) blickt ernst, als er diesen Satz ausspricht. Der Naturheilarzt, der seit 20 Jahren im Aargau eine Praxis betreibt und den Uigurischen Verein Schweiz leitet, sorgt sich um seine Verwandten und alle Angehörigen der muslimischen Minderheit in China, die in der Provinz Xinjiang leben.
Seit fast zwei Wochen flackern in mehreren Städten Chinas Demonstrationen auf, weil bei einem Wohnungsbrand in der Provinz Xinjiang wohl über 44 Uiguren ums Leben gekommen sind. Ein anderer in der Schweiz lebender Uigure, der dabei fünf Verwandte verloren hat, macht den Chinesen schwere Vorwürfe: Wegen der Null-Covid-Politik seien die Ausgänge verriegelt gewesen, zudem sei die Feuerwehr mit Absicht verzögert eingetroffen.
Seit vier Jahren hat Memetkerim von seinen Eltern nichts mehr gehört. Beim letzten Telefonat mit seinem Vater hatte dieser ihn gebeten, nicht mehr anzurufen, da die Gespräche abgehört würden. Zwei Jahre hielt es Memetkerim aus, bevor er aus Sehnsucht nach seinen Eltern die Nummer doch wieder wählte.
Doch der Anschluss war ausser Betrieb. «Ich habe keine Ahnung, was mit ihnen geschehen ist und ob sie noch leben. Vielleicht sitzen sie auch in einem Umerziehungslager», sagt Memetkerim zu Blick.
«KZ wie im Weltkrieg»
Die Chinesen betrachten die Uiguren im Nordwesten des Landes als Separatisten, Extremisten und Terroristen. 2014 begannen die Chinesen in der Provinz Xinjiang sogenannte «Zentren zur beruflichen Qualifizierung und Ausbildung» zu bauen.
«Eine beschönigende Bezeichnung», sagt Memetkerim. «In Tat und Wahrheit sind es Konzentrationslager, so wie man sie vom Zweiten Weltkrieg her kennt.» Rund eine Million Uiguren sind inzwischen inhaftiert, schätzen Menschenrechtsaktivisten, Memetkerim spricht von drei Millionen.
Anfangs hätten die Chinesen Uiguren festgenommen, die ihre Flagge mit weisser Mondsichel und Stern auf dem T-Shirt trugen. Dann genügte ein Telefonat mit Angehörigen ins Ausland, damit man hinter den Mauern der Erziehungsanstalten landete.
«Auch Intellektuelle wurden festgenommen, so etwa ein Mann, der in den 1980er-Jahren den Koran auf Uigurisch übersetzt hatte», sagt Memetkerim. Nach wenigen Wochen habe man seinen Leichnam den Verwandten übergeben. Inzwischen sei das Uigurische sogar aus den Schulen verbannt worden.
Frauen unterbunden, Kinder deportiert
Ab 2017 sei es zu Massenverhaftungen gekommen, sagt Memetkerim. «Männer werden gefoltert, Frauen vergewaltigt und per Operation oder Tabletten sterilisiert, damit es keine Uiguren-Babys mehr gibt.» Über eine Million Uiguren-Kinder seien deportiert und an chinesische Familien oder Kinderheime verteilt worden, berichtet Memetkerim.
Auch Organhandel werde hinter den dicken Mauern im grossen Stil betrieben. «Weil wir Muslime sind, werden unsere Organe als halal in muslimische Länder exportiert», sagt Memetkerim.
Unter den Uiguren sei die Angst vor der chinesischen Repression auch im Alltag gross. Memetkerim: «Viele schlafen in Kleidern und haben eine Tasche mit ihren wichtigsten Utensilien gepackt, damit sie nicht im Pyjama im Gefängnis landen.»
Der Alltag in den Lagern sei laut Zeugenaussagen brutal. «Die Internierten müssen stundenlang im Stehen verherrlichende Texte lesen.» Raus komme in der Regel nur, wer Angehörige im Westen hat. «Die chinesische Regierung fürchtet sich vor negativen Berichten in westlichen Medien», sagt Memetkerim.
Wer flieht, wird erschossen
Solche Aussagen, wie sie Memetkerim gegenüber Blick macht, werden von verschiedenen Seiten bestätigt, so etwa der Uno und den «Xinjiang Police Files», dem grössten Leak zu staatlichen chinesischen Umerziehungslagern, das Informationen über rund 300’000 durch die Behörden registrierte Menschen enthält.
Die Uiguren sind nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) mit rund zehn Millionen Angehörigen die zweitgrösste muslimische Bevölkerungsgruppe in China. Sie sind ein Turkvolk und ethnisch mit den Türken verwandt.
Rund 90 Prozent aller Uiguren weltweit leben in der chinesischen Provinz Xinjiang, die formal Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang heisst. Die Uiguren selbst bezeichnen ihr angestammtes Gebiet als Ostturkestan. 1949 annektierten Chinas Kommunisten mit sowjetischer Einwilligung das kurzzeitig unabhängige Ostturkestan.
Die Regierung in Peking wirft uigurischen Gruppen Separatismus und Terrorismus vor und bestraft sie mit Masseninternierungen, Zwangsarbeit, Zwangssterilisationen und kultureller Vernichtung. Das Vorgehen gegen die Volksgruppe hat sich unter Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping (69) noch verschärft.
Laut Recherchen haben Chinas Behörden mehr als eine Million Uiguren und andere meist muslimische Minderheiten in Gefangenenlagern interniert. Peking behauptet, es handle sich dabei um berufliche Fortbildungsstätten, deren Besuch freiwillig erfolge. Ehemalige Häftlinge berichten jedoch von Vergewaltigungen, Folter und politischer Indoktrinierung.
Die USA bezichtigen China des Völkermords an den Uiguren und haben Sanktionen verhängt. Peking weist die Vorwürfe von sich und nennt sie die «Lüge des Jahrhunderts».
Die Uno hat der chinesischen Regierung kürzlich in einem Bericht schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Deswegen hat im September das Schweizer Aussendepartement den chinesischen Botschafter einbestellt. «Die Schweiz ist überzeugt, dass sie ihre Interessen und die Achtung der Grundrechte am besten durch einen kritischen und konstruktiven Dialog mit Peking wahren kann», betonte das Departement von Bundespräsident Ignazio Cassis (61).
Die Uiguren sind nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) mit rund zehn Millionen Angehörigen die zweitgrösste muslimische Bevölkerungsgruppe in China. Sie sind ein Turkvolk und ethnisch mit den Türken verwandt.
Rund 90 Prozent aller Uiguren weltweit leben in der chinesischen Provinz Xinjiang, die formal Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang heisst. Die Uiguren selbst bezeichnen ihr angestammtes Gebiet als Ostturkestan. 1949 annektierten Chinas Kommunisten mit sowjetischer Einwilligung das kurzzeitig unabhängige Ostturkestan.
Die Regierung in Peking wirft uigurischen Gruppen Separatismus und Terrorismus vor und bestraft sie mit Masseninternierungen, Zwangsarbeit, Zwangssterilisationen und kultureller Vernichtung. Das Vorgehen gegen die Volksgruppe hat sich unter Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping (69) noch verschärft.
Laut Recherchen haben Chinas Behörden mehr als eine Million Uiguren und andere meist muslimische Minderheiten in Gefangenenlagern interniert. Peking behauptet, es handle sich dabei um berufliche Fortbildungsstätten, deren Besuch freiwillig erfolge. Ehemalige Häftlinge berichten jedoch von Vergewaltigungen, Folter und politischer Indoktrinierung.
Die USA bezichtigen China des Völkermords an den Uiguren und haben Sanktionen verhängt. Peking weist die Vorwürfe von sich und nennt sie die «Lüge des Jahrhunderts».
Die Uno hat der chinesischen Regierung kürzlich in einem Bericht schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Deswegen hat im September das Schweizer Aussendepartement den chinesischen Botschafter einbestellt. «Die Schweiz ist überzeugt, dass sie ihre Interessen und die Achtung der Grundrechte am besten durch einen kritischen und konstruktiven Dialog mit Peking wahren kann», betonte das Departement von Bundespräsident Ignazio Cassis (61).
In diesen Files steht unter anderem, dass beim Fluchtversuch eines «Schülers» ein Warnschuss abgegeben werden soll. Falls er erneut versuche zu fliehen, «wird ihn die bewaffnete Volkspolizei erschiessen».
Uno bestätigt Zeugenaussagen
Die Uno hat am 31. August einen lange erwarteten Bericht zur Lage der muslimischen Minderheit der Uiguren in Xinjiang vorgelegt. «Vorwürfe von Mustern von Folter oder Misshandlung, einschliesslich erzwungener medizinischer Behandlung und schlechter Haftbedingungen, sind glaubhaft», heisst es in dem 46-seitigen Bericht. Das Gleiche gelte für Vorwürfe sexueller und geschlechtsbasierter Gewalt.
«Das Ausmass der willkürlichen und diskriminierenden Inhaftierung von Angehörigen der Uiguren und anderen überwiegend muslimischen Gruppen (…) könnte internationale Verbrechen, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darstellen», heisst es. Die internationale Staatengemeinschaft müsse sich «dringend» mit der Menschenrechtslage in Xinjiang befassen. Der Vorwurf des Genozids, wie ihn unter anderem die USA erheben, wird in dem Bericht nicht erhoben.
Die Schweiz und weitere 49 Uno-Mitgliedsstaaten haben sich einer Erklärung angeschlossen, in der schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen in der chinesischen Provinz Xinjiang angeprangert werden.
China weist Vorwürfe zurück
China weist die Vorwürfe vehement zurück: Hinter dem Bericht stünden in Wirklichkeit «die USA und einige weitere westliche Kräfte», er sei «komplett unrechtmässig und ungültig», sagte der Sprecher des chinesischen Aussenministeriums, Wang Wenbin (51), nach der Veröffentlichung. Er bezeichnete den Bericht als «ein Sammelsurium von Fehlinformationen».
Andili Memetkerim ist glücklich, dass er in der Schweiz in Sicherheit ist. Aber am liebsten möchte er wieder in seiner alten Heimat leben. «Ich denke fast jede Minute daran», sagt er. Eine Rückkehr werde er aber wohl nicht mehr erleben können. Memetkerim: «Weil ich im Westen lebe und über das Leiden der Uiguren berichte, gelte ich für die Chinesen als Terrorist.»