Zwangslager-Überlebende Gulbahar Jalilova
«China wird mich nie in Ruhe lassen»

Gulbahar Jalilova wurde geschlagen, gefoltert und vergewaltigt. Chinesische Polizisten verhafteten sie vor fünf Jahren in Xinjiang. Ein Jahr, drei Monate, zehn Tage und 13 Stunden hielten sie die gebürtige Kasachin in einem «Umerziehungslager» gefangen.
Publiziert: 02.10.2022 um 10:24 Uhr
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Aktualisiert: 03.10.2022 um 17:00 Uhr
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Gulbahar Jalilova wurde 2017 in der chinesischen Provinz Xinjiang verhaftet. Mehr als 15 Monate war sie in einem Zwangslager untergebracht. Heute lebt sie in Frankreich.
Foto: Thomas Meier
Joschka Schaffner (Text) und Thomas Meier (Bilder)

Nachdem Gulbahar Jalilova am 27. August 2018 freigelassen worden war, war ihr klar: Sie möchte der Welt erzählen, wie China Uiguren und andere muslimische Menschen misshandelt.

Es ist Mittwochmorgen. Jalilova sitzt in einem Zürcher Café und trinkt einen Grüntee. Sie ist in der Schweiz, um ihre Geschichte zu erzählen. Mit dabei hat sie einen Stapel von Dokumenten, die sie nach ihrer Gefangenschaft gesammelt hat. Sie weint im Laufe des Gesprächs immer wieder.

Jalilova kommt aus Almaty, Kasachstan. Als 1991 die Sowjetunion auseinanderbrach, machte sie sich als Textil- und Schmuckhändlerin selbständig. Für die Arbeit reiste sie ab 1996 regelmässig in die chinesische Provinz Xinjiang, um dort Ware einzukaufen.

Achteinhalb Stunden im Folterstuhl verhört

21 Jahre später: Ein Händler bat Jalilova, ihre Bestellung abzuholen. Am 11. Mai 2017 reiste sie dafür nach Urumtschi, dem Hauptort Xinjiangs. Einen Tag später wurde sie verhaftet. «Polizisten klopften an meine Hoteltüre und wollten meinen Pass sehen. Ich musste mit ihnen hinunter zur Rezeption, wo er hinterlegt war. Als sie den Pass erhielten, schauten sie nicht einmal rein und brachten mich sofort aufs Revier», erzählt Jalilova. «Während ich dort sass, wurde in einem anderen Raum mein Telefon durchsucht.»

Nach sechs Stunden setzten die Beamten sie in einen Tigerstuhl: ein eisernes, käfigartiges Folterinstrument, in dem ihr keine Bewegung mehr möglich war. In diesem wurde Jalilova achteinhalb Stunden verhört – zu ihren Tätigkeiten, ihrer Familie und ihren Kindern. Die Polizisten legten ihr ein Dokument vor: «Sie wollten, dass ich es unterschreibe. Ich weigerte mich.» Während sie erzählt, nimmt sie eine Kopie des Schreibens hervor. Mit ihrem Zeigefinger gleitet sie über die chinesischen Schriftzeichen: «Ich kann kein Chinesisch. Erst nach meiner Gefangenschaft erfuhr ich von meiner Familie, was draufstand: Ich sei eine Terroristin. Die Polizei hatte ihnen den Brief zugesandt.»

Eingepfercht mit 50 anderen Frauen

In der Nacht wurde sie in ein Internierungslager gebracht. Ihr wurde Blut abgenommen, um zu schauen, ob sie schwanger sei. Ihre Fingerabdrücke wurden registriert. Und sie erhielt einen Personalausweis, wurde zur chinesischen Bürgerin. Ihr Nachname war nun «Jalil» – die kasachische Endung fehlte. Niemand sollte erfahren, dass sie keine Uigurin ist.

Als sie erstmals eine Zelle betrat, schrie sie laut auf: «Alle sahen ungepflegt und krank aus. Eine Frau sagte mir, ich soll nicht schreien, sonst käme ich in Einzelhaft.» Die Zelle war ein kahler Raum aus Beton ohne Betten oder Sitzmöglichkeiten. Am Ende des Raumes befand sich eine Toilette. Möglichkeiten, sich zu waschen, gab es keine. Zeitweise hielten sich bis zu 50 Frauen darin auf. Schriftstellerinnen, Ärztinnen, Anwältinnen – die Gefangenen kamen aus allen möglichen Berufsgruppen. Sie waren zwischen 14 und 80 Jahre alt. Als Jalilova darüber spricht, schlägt sie ein Notizbuch auf. Nach ihrer Gefangenschaft schrieb sie die Vornamen und Berufe von 67 Mitinsassinnen nieder.

Alle zehn Tage mit einer Spritze betäubt

Jalilovas Füsse und eine Hand wurden aneinandergekettet. Sie steht auf und zeigt, wie sie sich bewegen musste: «Ich konnte nur gebückt gehen. Deshalb habe ich bis heute Rückenprobleme.» Die Wärter holten immer wieder Insassinnen raus und brachten neue rein. Jalilova wechselte zweimal die Zelle. «Es war vermutlich strategisch. So konnten wir uns nie über längere Zeit austauschen.» Die Frauen erhielten durch ein kleines Fenster Tabletten. Alle zehn Tage musste Jalilova ihren Arm durch das Fenster strecken: «Mir wurde Blut abgenommen und eine Spritze mit Betäubungsmittel verabreicht.»

Einer der Verhörräume hatte keine Kameras. Darin konnten die Wärter die Frauen behandeln, wie sie wollten. Viele wurden dort vergewaltigt – auch Jalilova. Sie versuchte, an ihre Kinder zu denken. In Kasachstan hatte sie zwei Töchter und zwei Söhne. «Es gelang mir nicht, mich an ihre Gesichter zu erinnern», erzählt sie unter Tränen.

Ihre Familie schrieb Jalilova frei

Während sie gefangen war, versuchte ihre Familie, sie zu befreien. Sie schrieben Briefe an Russland, Kasachstan und den Uno-Menschenrechtsrat. Jalilova holt die Antwortbriefe aus ihrem Papierstapel hervor. Die Bemühungen ihrer Familie zahlten sich aus: Am 27. August 2018 wurde sie aus dem Internierungslager entlassen. «Das Letzte, was ich im Lager sah, war eine 21-jährige Mitinsassin, die nackt am Boden lag.»

Zahlreiche Quellen gehen von über einer Million Uiguren und Mitgliedern anderer Minderheiten aus, die gegen ihren Willen festgehalten werden. Ende August veröffentlichte die Uno den Bericht zur Situation. Er misst den Erzählungen von Augenzeugen hohe Glaubwürdigkeit bei.

Jalilova reiste zurück nach Kasachstan, blieb aber nicht lange: «Ich schämte mich vor meinen Bekannten dafür, was passiert ist. Also ging ich in die Türkei.» Dort wurde sie Aktivistin, sprach mit den Medien. Sie fühlte sich nicht sicher, wurde von Chinesen angegriffen, reiste weiter nach Frankreich. Auch dort wurde an ihre Tür geklopft. Jalilova nimmt dies in Kauf: «Sie werden mich nie in Ruhe lassen, aber ich habe keine Angst. Solange ich lebe, werde ich die Wahrheit sagen.»

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