«Es stehen nur drei Dinge auf meiner Agenda, nämlich Waffen, Waffen und Waffen». So beginnt der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba (40) am Donnerstag seine Ansprache vor den Aussenministern der Nato-Staaten, die sich im Hauptsitz in Brüssel versammelt haben.
Für viele Anwesenden sah das Programm ähnlich aus: Die Frage, wie der Ukraine jetzt noch im Krieg gegen Russland geholfen werden konnte, stand im Zentrum der Beratungen. «Ich habe die Verbündeten eindringlich gebeten, weitere Unterstützung in Form vieler verschiedener Waffensysteme zu leisten», sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg (63). Dabei gehe es um «leichte und schwere Waffen». Der Wind im Bündnis scheint sich gedreht zu haben.
Kampfflugzeuge weiterhin Tabu für Bündnis
«Das alleine markiert eine Zäsur», schreibt die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» (FAZ) als Reaktion auf Stoltenbergs Bitte. Denn: Wer sich an das Treffen der Staats- und Regierungschefs vor zwei Wochen zurückerinnert, wird nun stutzen. «Es gibt eine rote Linie, die darin besteht, nicht Kriegspartei zu werden», hatte der französische Präsident Emmanuel Macron (44) seinerzeit gesagt. Die Nato habe deshalb entschieden, der Ukraine zwar weiter «defensive Waffen» zu liefern, doch denke niemand daran, auch Panzer und Kampfflugzeuge zu schicken.
Und jetzt? Stoltenberg wischte am Donnerstagmorgen die bisherige Unterscheidung der Nato von defensiven und offensiven Waffen vom Tisch, die für viele Verbündete zuvor noch eine klare «rote Linie» darstellte. Die Ukraine brauche Waffen zur Verteidigung, sagte er, und «das ist tatsächlich defensive Selbstverteidigung, mit natürlich fortschrittlichen Waffensystemen». Auf gut Deutsch: Auch Panzer, Artillerie und ballistische Raketen, mit denen russische Kriegsschiffe versenkt werden können, werden jetzt als defensive Systeme betrachtet.
Auch Kuleba merkte nochmals an: «Per Definition ist jede Waffe defensiv, die von der ukrainischen Armee auf dem Territorium der Ukraine gegen einen ausländischen Angreifer eingesetzt wird». Als offensiv gelte ein Waffeneinsatz erst, wenn die Ukraine diese Waffen auf russischem Boden einsetzt – was auch schon vorgekommen sein soll. Das erklärt wohl, so die FAZ, weshalb die Nato-Staaten lediglich Panzer in die Ukraine liefern wollen und die Lieferung von Kampfflugzeugen weiterhin auf grosse Vorbehalte stossen.
Zwei Gründe für Nato-Sinneswandel
Für den Sinneswandel der Allianz gibt es zwei Gründe, so die Zeitung. Der erste ist politischer Natur: Nach dem Massaker von Butscha ist der Druck gestiegen, der Ukraine so zu helfen, dass künftige Massaker verhindert werden können. Zudem dürften die russischen Gräueltaten in Butscha kein einzelner Fall gewesen sein, wie jüngst Berichte über «Filtrationslager» und mobile Krematorien in Mariupol ahnen lassen.
Der zweite Grund ist auf militärischem Boden gewachsen. Russland muss nach seinen Niederlagen in Kiew und Charkiw seine Einheiten neu aufstellen, bevor die, von der Ukraine erwartete, Schlacht im Donbass eröffnet werden kann. Eine solche Erneuerung der Truppen könne laut der FAZ bis zu vier Wochen dauern. Für die Nato eröffnet sich damit ein – wenn auch kleines – Zeitfenster, um die ukrainischen Truppen jetzt mit besseren Waffen auf die Offensive im Donbass vorzubereiten.
Tschechien macht mit Panzer-Lieferung den Anfang
Als erster Mitgliedsstaat der Nato hat die Tschechische Republik mehrere Kampfpanzer des Typs «T-72» sowie Schützenpanzer, beides Modelle aus der Sowjetunion, an die Ukraine geliefert. Dabei interessant: Die übrigen Nato-Mitgliedsstaaten waren über diesen Schritt wenig überrascht, Prag hat im Voraus darüber informiert. Weitere Länder würden bald folgen, war in Brüssel zu hören. Laut Bundeskanzler Olaf Scholz (63) soll es dazu bereits vor dem Treffen am Donnerstag eine Absprache gegeben haben.
Eine Bitte der Ukraine, 100 Schützenpanzer des Typs Marder zu liefern, hat die Bundesregierung – anders als zuvor – nicht kategorisch abgelehnt. «Wir sagen nicht Nein, sondern wir schauen uns an, was es für Lösungen gibt», hatte die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock (41) bereits am Dienstag gesagt. Trotzdem bleibt die Sorge, «deutsche Panzer» könnten das Land in eine direkte Konfrontation mit Russland ziehen, weiter bestehen.
Die neue Haltung gegenüber Kiew scheint laut FAZ also zu sein: Sagt uns genau, was ihr wollt und wir tun das Möglichste. Ein offizieller Beschluss seitens der Nato wird allerdings weiterhin ausbleiben – die Nato möchte sich als Bündnis aus der Waffenlieferung heraushalten. Informellen Absprachen unter den Mitgliedsstaaten stehe das allerdings nicht im Wege.