Michel Friedman im Interview
«Die Naivität im Westen macht mich krank»

Seine Eltern haben die Shoah überlebt. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel spricht der Publizist über Antisemitismus in Europa – und sagt, wieso er noch immer an eine Lösung im Nahost-Konflikt glaubt.
Publiziert: 22.10.2023 um 10:24 Uhr
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Aktualisiert: 22.10.2023 um 12:13 Uhr
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Michel Friedman findet die Aufforderungen des Westens an Israel heuchlerisch, bei der Reaktion auf den Terror Verhältnismässigkeit walten zu lassen.
Foto: Gaby Gerster/laif
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Lino SchaerenRedaktor

Herr Friedman, Israel ruft seine Staatsbürger auf, die Türkei zu verlassen – wegen der zunehmenden terroristischen Bedrohung von Israelis im Ausland. Wird der Nahostkonflikt zur Gefahr für das jüdische Leben in Europa?
Michel Friedman: Die Anzahl verbaler und körperlicher Angriffe auf Jüdinnen und Juden ist erschreckend gestiegen. Gewalt ist nicht mehr die Ausnahme. Also ja: Das jüdische Leben ist in Europa objektiv gefährdet. Betonen muss man, dass das gesellschaftliche Klima durch die Erfolge rechtsextremer Parteien beeinflusst wurde. Sei dies in Deutschland, Italien, Ungarn oder Schweden.

Der Antisemitismus war also bereits vor den Massakern der Hamas auf dem Vormarsch.
Ja, aber der Terrorakt der Hamas hat eine neue Enthemmung der Gewalt hervorgerufen, vor allem bei islamistischen Radikalen.

Pro-Palästina-Proteste laufen aus dem Ruder, Polizisten mussten das Holocaust-Mahnmal in Berlin schützen, es gab den Brandanschlag auf eine Synagoge: Wie stark ist der Antisemitismus heute in Deutschland verwurzelt?
Er besteht aus drei Teilen. Der gefährlichste und stärkste ist der rechtsextremistische Antisemitismus. Daneben gibt es einen linksextremistischen Antisemitismus. Und jetzt tritt verstärkt der Antisemitismus von radikalisierten politischen Muslimen in den Vordergrund. Die drei Teile haben eine grosse Schnittmenge: den Hass auf die Juden und Vernichtungsfantasien. Das ist im Übrigen nicht nur eine deutsche Diagnose. Sie gilt überall dort, wo Juden in freien Gesellschaften leben.

Wie erklären Sie sich das – angesichts der deutschen Geschichte?
Weil jahrzehntelang weggeschaut wurde, hat sich der rechtsextremistische Judenhass zunehmend sicherer gefühlt und enthemmt. Mit der Bildung einer Partei des Hasses bekommt dies eine neue Dimension und Legitimation.

Sie sprechen von der AfD.
Wer diese Partei in Parlamente wählt, unterstützt ihre menschenverachtende Ideologie.

Sie sehen einen Zusammenhang zwischen dem Aufschwung der AfD und dem zunehmenden Antisemitismus?
Die AfD macht Antisemitismus salonfähiger. Sie ist zwar demokratisch gewählt, deshalb aber noch keine demokratische Partei. Dass sie aus dem Parlament heraus agiert, macht sie so gefährlich. Die AfD verändert das Debattenklima: statt Toleranz Intoleranz, statt Kooperation Konfrontation, statt miteinander gegeneinander.

Persönlich

Michel Friedman (67) ist Jurist, Philosoph, Publizist und TV-Moderator. Er kam mit zehn Jahren als Kind von Holocaust-Überlebenden nach Frankfurt am Main. In den 90er-Jahren war er Mitglied des CDU-Bundesvorstands, von 2000 bis 2003 stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland und Herausgeber der «Jüdischen Allgemeinen». 2003 trat er nach einer Kokain-Affäre von allen Ämtern zurück. Danach promovierte Friedman in Philosophie. Seit 2016 ist er Honorarprofessor für Immobilien- und Medienrecht an der Frankfurt University of Applied Sciences.

Michel Friedman (67) ist Jurist, Philosoph, Publizist und TV-Moderator. Er kam mit zehn Jahren als Kind von Holocaust-Überlebenden nach Frankfurt am Main. In den 90er-Jahren war er Mitglied des CDU-Bundesvorstands, von 2000 bis 2003 stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland und Herausgeber der «Jüdischen Allgemeinen». 2003 trat er nach einer Kokain-Affäre von allen Ämtern zurück. Danach promovierte Friedman in Philosophie. Seit 2016 ist er Honorarprofessor für Immobilien- und Medienrecht an der Frankfurt University of Applied Sciences.

In Gaza herrscht Panik: Israel schlägt nach dem 7. Oktober zurück. Worauf müssen wir uns einstellen?
Israel holt nicht einfach zum Gegenschlag aus. Das Land verteidigt sich, wozu es im Völkerrecht und auch von der Uno legitimiert ist. Die Hamas tut so, als ob sie diese Gewalt – diese brutale, rohe, bestialische Gewalt – eingesetzt hat, um etwas für die Palästinenser zu tun. Dabei erklärt sie selbst, dass ihr Ziel die Vernichtung des Staates Israel ist. Das ist eine Fantasie, die mehr als acht Millionen Menschen betrifft. Ziel der Hamas ist es nicht, einen Palästinenserstaat zu gründen, sondern einen islamistischen Scharia-Staat, mit anderen Worten: ein Klein-Iran.

Wo bleibt da die palästinensische Zivilbevölkerung?
Die Palästinenser, die in Gaza leben, sind ein Schutzschild der Hamas. Israel hat die Zivilbevölkerung aufgefordert, den Norden Gazas zu verlassen. Doch sie können nicht fliehen, weil sie in einem Gefängnis sitzen, das die Hamas von innen geschlossen hält.

Israel hat den Gazastreifen abgeriegelt, fliegt massive Luftangriffe, eine Bodenoffensive wird folgen. Ist das in Ihren Augen eine angemessene Reaktion?
Ich kenne keinen Staat, der Stunden oder Tage vorher ankündigt, dass bald eine Verteidigungsaktion stattfinden wird. Und was tut Europa? Es ruft Israel zur Verhältnismässigkeit auf. In Gaza gibt es Strukturen mit massenhafter Bewaffnung, mit massenhafter logistischer Infrastruktur und mit Massenmördern der Hamas, die das Leben der eigenen palästinensischen Bevölkerung nicht respektieren. Und auch nicht jenes der Bevölkerung der restlichen Welt.

Sie finden es unangebracht, Israel zur Wahrung der Verhältnismässigkeit aufzurufen?
Ich halte die Aufrufe für geheuchelt. Und ich halte sie auch nicht für angebracht im Verhältnis zur Bedrohung, die von der Hamas für alle demokratischen Staaten mit humanistischen und aufgeklärten Gesellschaften ausgeht.

Das müssen Sie erklären.
Machen wir uns doch nichts vor: Der islamistische Terror betrifft geografisch immer zuerst Israel. Letztendlich aber zielt die Ideologie des Irans, der das alles ermöglicht, finanziert und auch organisiert, darauf ab, dass eine andere Welt entsteht, eine islamistische Welt. Wer so naiv ist zu glauben, dass uns das nichts angeht, versteht nicht, warum wir als freie Welt Israel unterstützen. Gehen wir vom schlimmsten Fall aus, dass Israel nicht mehr existiert – glauben Sie wirklich, dass die Destabilisierung, die Iran im Nahen Osten vorhat, dann nicht weitergeht?

Israel kämpft im Krieg gegen die Hamas nicht nur für sich selbst?
Wir engagieren uns beim rechtswidrigen Angriffskrieg Russlands für die Ukraine. Dasselbe müssen wir auch für Israel tun – weil es keine Rolle spielt, ob die totalitäre Ideologie des Angreifers politisch oder religiös ist.

Wie meinen Sie das?
Ein Religionsstaat, welchen Glaubens auch immer, ist ein autoritärer Staat, der nicht einmal der eigenen Bevölkerung die demokratische Grundfreiheit zubilligt zu leben, wie man will. Das haben wir letztes Jahr beim Umgang des Irans mit Frauen gesehen, die wenigstens das Kopftuch ablegen wollen. Autokraten wie Wladimir Putin und Xi Jinping sehen das 21. Jahrhundert als Jahrhundert der Autokratien und Diktaturen sowie des Untergangs der Demokratien. Die Naivität, die teils im Westen herrscht, macht mich krank.

Das barbarische Vorgehen der Hamas schockiert nicht nur die westliche Welt. Was will diese Terrormiliz damit erreichen?
Die Feigheit, ihre Angriffe nicht auf militärische Institutionen oder Soldaten zu konzentrieren, sondern auf Kinder und Frauen, zeigt die Menschenverachtung dieser Organisation. Genau das will die Hamas: Bilder erzeugen – vor allem im Netz –, die in ihrer Unmenschlichkeit nicht zu übertreffen sind. Ich kann nicht verstehen, warum ein dreijähriges Kind ein Feind des Islamismus sein soll. Diese Propaganda, diese Bilder verrohen nicht nur die Mörder selbst, sondern alle, die sich das anschauen und keine Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen ziehen. Wir müssen sagen: Hier machen wir als Konsumenten nicht mehr mit.

Gehört es nicht zum Kalkül der Hamas, Israel zu einer starken militärischen Reaktion zu provozieren, damit Bilder der leidenden Zivilbevölkerung in Gaza um die Welt gehen?
Selbst wenn das so wäre: Kein Staat würde von den selbst erklärten Soldaten des vermeintlichen Gaza-Staates einen solch barbarischen Angriff hinnehmen; das wäre der Anfang vom Ende. Ein Staat hat das Recht – nein, die Pflicht! –, seine Bevölkerung zu verteidigen.

Kann sich ein Land oder eine Bevölkerung von solchen Gräueltaten überhaupt erholen?
Kaum war Israel als Staat 1948 gegründet, wurde es von arabischen Staaten kriegerisch angegriffen. Es gibt keinen anderen Krieg, der die Vernichtung des ganzen Staates und seiner Bevölkerung als Ziel hat. Zwar verfolgt Russland seine Fantasie, die Ukraine zu zerstören, doch die Ukrainer sollen ein Teil von Russland werden. Im Falle Israels war das Ziel schon immer mehr als die Zerstörung der staatlichen Einheit – es geht um die Ermordung aller Israelis. Diese Bevölkerung hat eine ausserordentliche Resilienz, weil sie zutiefst an die Freiheit und die Demokratie glaubt. Dass vor dem Krieg jede Woche bis zu 250 000 Menschen gegen die rechtsextreme Regierung protestiert haben, zeigt genau dies. Wie viele Menschen leben in der Schweiz?

Neun Millionen.
So viele wie in Israel. Glauben Sie, dass Sie in der Schweiz jede Woche Zehntausende auf die Strasse bringen, um eine Antwort auf menschen-, demokratie- und rechtsstaatsvernichtende Parteien zu geben? Die innenpolitische Krise in Israel bedeutet genau das: Israelis wollen selbstbewusst, frei und demokratisch leben. Das aber können sie nur in Israel. In jedem anderen Land der Welt ist der Antisemitismus ein Qualitätsvernichter jüdischen Lebens.

Wo ist der Westen jetzt gefordert, was müssen wir Europäer tun?
Als Allererstes braucht es glaubwürdige Empathie. Und dann müssen wir dort, wo Unterstützung nötig ist, Hilfe leisten. Es geht nicht nur um das Militärische. Ich erinnere daran, dass Israel militärisch so gut ausgerüstet ist, dass viele Europäer darüber nachdenken, seinen Raketenschutzschild zu kaufen. Es braucht aber auch eine andere Art von Schutzschild. Einen, der verhindert, dass sich das übliche Narrativ durchsetzt, die Israelis seien schlimmer als die Hamas. Das wollen die Terroristen, das wollen viele arabische Staaten, das wollen die Antisemiten.

Im Nahostkonflikt scheint eine Lösung in weite Ferne gerückt. Sehen Sie überhaupt eine Perspektive?
Als Philosoph und als Mensch, der sich mit Geschichte und Politik beschäftigt, lautet meine Antwort natürlich Ja. Diesen Konflikt gibt es noch nicht mal seit 100 Jahren. In Europa gab es Hunderte Jahre Kriege, Bürgerkriege, Grenzverschiebungen, Morde, Massenmorde, zwei Weltkriege und die Shoah. Trotzdem haben wir seit ein paar Jahrzehnten den zivilisierten Umgang miteinander gelernt. Es gibt in Europa keinen Krieg mehr zwischen den Demokratien. Warum soll das im Nahen Osten nicht möglich sein?

Ja, wieso nicht?
Voraussetzung dafür sind demokratische Staaten und ihre Bevölkerung, die im Geiste der Aufklärung und nach dem Prinzip der Trennung von Religion und Staat leben: Die Würde des Menschen ist unantastbar, Diskriminierung verboten. Das hat in Europa fast 2000 Jahre gedauert. Im Nahen Osten wird es hoffentlich schneller gehen.

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