Was passiert mit einer Wirtschaft, wenn innert weniger Tagen acht Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung vom Arbeitsplatz verschwindet? Für Israel ist diese Frage kein Gedankenspiel mehr.
Die Armee hat nach dem Hamas-Angriff 360'000 Reservistinnen und Reservisten eingezogen und plant eine Bodenoffensive im Gazastreifen. Für ein Land mit ungefähr gleich vielen Einwohnern wie die Schweiz eine beträchtliche Zahl.
Nebst dem Schmerz über die 1400 Opfer der Hamas-Attacke stehen in Israel Fragen über die wirtschaftliche Zukunft im Raum: Wie lange kann der Ausnahmezustand anhalten? Wie lange noch bis zum wirtschaftlichen Kollaps?
Er kämpfte bereits im Sechstagekrieg
Nachfrage bei Eytan Sheshinski (86), ein israelischer Ökonom mit Schweizer Wurzeln. Seine Mutter wanderte 1933 aus Zürich aus und liess sich in Israel nieder.
Sheshinski selbst gab 1967 Hals über Kopf seine Ökonomie-Professur an der Harvard-Universität auf, schloss sich stattdessen als Fallschirmjäger der israelischen Armee im Sechstagekrieg an. Unter Ökonomen gilt er heute als Koryphäe. Jahrelang lehrte an den besten Universitäten der Welt. Dazu beriet er den Knesset, also das Parlament, und die Regierung – zwei Gesetze sind nach ihm benannt.
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Jetzt sitzt Sheshinski in seiner Wohnung in der Hauptstadt Jerusalem und verfolgt besorgt, was sich in seinem Land abspielt. Er hat bei den Angriffen mehrere Freunde verloren. Am Tag vor dem Gespräch mit Blick ertönt der Bombenalarm. Sheshinski und seine Familie müssen für mehrere Stunden in den Bunker.
Wie viele Fronten?
Die Unsicherheit bei Armee und Regierung ist laut Sheshinski gross. Denn während die Armee ihre Bodenoffensive im Gazastreifen vorbereitet, brodelt an der nördlichen Grenze zum Libanon ein weiterer Konfliktherd. Feuergefechte mit der schiitischen Miliz Hisbollah und Drohgebärden beider Seiten schüren die Angst vor dem Mehrfrontenkrieg.
«Die Anzahl Fronten wird darüber entscheiden, wie viele der eingezogenen Reservisten wirklich zum Einsatz kommen», so Ökonom Sheshinski. Es sei aber äusserst schwierig, sie für lange Zeit auf Abruf zu halten. Mit jedem Tag falle ihre Abwesenheit am Arbeitsplatz schwerer ins Gewicht.
Hightech-Sektor besonders betroffen
Aus wirtschaftlicher Sicht besonders problematisch: Viele der jungen Reservisten seien im Hightech-Sektor tätig. Der ist für Israels Wirtschaft zentral – letztes Jahr machte er die Hälfte aller Exporte aus.
Vor allem den Start-ups – Israel hat die grösste Start-up-Dichte weltweit – droht in den Kriegswirren das Geld auszugehen. Bereits die Kontroverse um die Justizreform Anfang Jahr schreckte Investoren und Unternehmerinnen gleichermassen ab.
Start-ups sind besonders auf das Geld ausländischer Investoren angewiesen, die vorläufig abwarten. «Einige Start-ups sind deswegen bereits ins Ausland abgewandert. Weitere dürften nun folgen», sagt Sheshinski.
«Teurer als die Corona-Pandemie»
Am seidenen Faden hängt auch die Zukunft weiter Teile des Dienstleistungssektors. «Die Leute trauen sich nicht mehr auf die Strasse. Sie konsumieren kaum noch», sagt Sheshinski. Einzig die Hotels erhalten etwas Aufschub. Zwar bleiben die Touristen weg, dafür hat die Regierung die evakuierte Bevölkerung aus der Nähe des Gazastreifens bei ihnen untergebracht.
Von Kontakten aus der Regierung weiss er, dass diese in den nächsten Tagen ein Hilfspaket für KMUs vorstellen will. Über die Höhe sei man sich noch nicht einig. Doch Sheshinski sagt: «Es wird teurer als während der Corona-Pandemie.»
Schreckgespenst Stagflation
Erschwerend kommt dazu, dass die landwirtschaftliche Produktion im Süden, wo vor allem Ackerbau betrieben wird, stark eingeschränkt ist. Israel muss deswegen vermehrt auf Importe zurückgreifen. Zusammen mit den rückläufigen Investitionen aus dem Ausland dürfte dies die Landeswährung Schekel weiter schwächen. Daraus entsteht ein gefährlicher Cocktail, der Israels Bevölkerung noch lange beschäftigen dürfte: Eine Rezession bei gleichzeitiger Teuerung.
Besserung ist nicht in Sicht. Die israelische Regierung unternimmt bereits Anstrengungen, um ihr Verteidigungsbudget zu stärken – auf Kosten zahlreicher anderer Sektoren. Zu Hilfe dürfte US-Präsident Joe Biden (80) eilen, der für Israel ein Hilfspaket schnüren will.
Trotzdem glaubt Sheshinski: «Die israelische Bevölkerung muss ihren Lebensstandard in naher Zukunft nach unten korrigieren.» Es werde wohl Jahre gehen, bis die israelische Wirtschaft wieder zu ihrer alten Stärke zurückfinde.